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Der Blinde von Sevilla

Der Blinde von Sevilla

Titel: Der Blinde von Sevilla Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Wilson
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aber er kommt für meine Kosten auf, gibt mir Anweisungen bezüglich der Sicherheitsmaßnahmen und macht alle Pläne. Ich bin acht Jahre älter als er. In diesem Jahr bin ich 30 geworden. Es muss das Leben in der Legion sein … ich brauche eine vorgegebene Struktur, um etwas zu leisten. Ich bin nicht mein eigener Herr … außer wenn ich mich hierher in meinen Hof zurückziehe.
    Dieses Haus ist wie mein Kopf, was sehr entlarvend ist, da es (wie R. gesagt hat) das Haus eines Verrückten ist. Ich bewohne immer neue Räume. Einer hat eine sehr hohe Decke und ein Oberlicht mit maurischem Gitterwerk. Ich sitze auf dem Teppich, rauche Haschisch und beobachte vollkommen fasziniert, wie sich der Schatten des Gitterwerks mit der Sonne über die Wände bewegt. P. der Barkeeper des Café Central am Petit Soco, hat mich neulich auf einen »spanischen Künstlerkollegen« hingewiesen, der noch heruntergekommener aussieht als einige der Menschen, die in den chabolas am Stadtrand leben. Seine Name ist António Fuentes. Er malt, verkauft oder zeigt aber niemandem seine Werke. Das scheint mir sinnlos, und ich versuche, mit ihm darüber zu diskutieren, doch er bleibt eisern. P. stellt mich einem amerikanischen Musiker vor – Paul Bowles. Wir sprechen Arabisch, weil mein Englisch schlecht und sein Spanisch noch schlechter ist. Er spricht von majoun , einer Haschischpaste, von der ich zwar gehört, die ich aber noch nie probiert habe. P. stellt sie her, und wir kaufen ihm welche ab.

    5. Januar 1946, Tanger
    Es ist kalt und feucht. Das Wetter war zu schlecht, um auszulaufen. R. zeigt mir ein Geschenk, das er für die junge Tochter unseres Rechtsanwaltes gekauft hat – eine aus Knochen geschnitzte Puppe. Sie ist außergewöhnlich zart, aber auch ein wenig makaber. Später sehen wir das Mädchen mit ihren Eltern auf dem Weg zur spanischen Kathedrale in der Medina die Straße überqueren. Sie ist sehr schön, aber noch ein Kind. Ihre Brüste sind nur kleine Wölbungen, und ihr Körper bildet von den Achselhöhlen bis zur Hüfte eine gerade Linie. Ich verstehe nicht, was ihn an ihr so erregt, bis er mir noch etwas aus seinem früheren Leben enthüllt. Sie erinnert ihn an ein Mädchen aus seinem Dorf, dessen Eltern am selben Tag erschossen wurden wie seine. Das Mädchen jedoch wollte nicht von der Seite ihrer Eltern weichen und konnte nicht einmal von ihrem eigenen Vater dazu gezwungen werden. Verärgert und verzweifelt erschossen die Anarchisten sie also zusammen mit ihren Eltern. Was sagt das über R.s Vernarrtheit in die Tochter des Anwalts? Sie berührt das in ihm, was ihm am wertvollsten ist.

    25. Januar 1946, Tanger
    Ich nehme etwas majoun , das ich auf ein Brot streiche, in dem seltsamen Raum mit der hohen Decke esse und mit Pfefferminztee herunterspüle. Kaum habe ich mein Glas wieder auf das Tablett gestellt, versinke ich in eine entspannte Benommenheit. Nach einigen Minuten spüre ich, wie mein Körper von den Haarspitzen bis zu den Schwielen an meinen Füßen kribbelnd zum Leben erwacht. Ich schwebe einen halben Meter unter das Oberlicht mit dem Gitter, aus dem man über die Dächer zu den Stadtmauern und auf das dahinter liegende graue Meer schauen kann. Wässriges Sonnenlicht wirft den Schatten des Gitterwerks auf mein Hemd. Besorgt, ohne sichtbare Stütze sieben Meter über dem Boden zu schweben, wedele ich mit Armen und Beinen. Ich schließe die Augen und entspanne mich. Mir ist kälter als je zuvor, sogar kälter als in Russland. Ich öffne die Augen wieder und sehe die weiß gestrichene Decke, aus der kleine schwarze Flecken wuchern. Sie entpuppen sich als Haufen erfrorener Körper. Ich bin erschrocken. Ich versuche, bewusst aus meinem Rausch auszusteigen, doch der Zustand hält stundenlang an. Als ich aufwache, ist es dunkel. Heute Morgen habe ich die Schimmelflecken an der Decke gesehen, die der Winterregen hinterlassen hat. Die kleinen Haufen. Die Sporen. Die lebenden Toten.

21
    Donnerstag, 19. April 2001, Jefatura,
    Calle Blas Infante, Sevilla

    Falcón ahnte, dass der Raúl aus den Tagebüchern seines Vaters niemand anderes als Raúl Jiménez sein konnte, und rief bei Ramón Salgado an, um zu erfahren, dass dessen Terminplan unverändert sei. Er wollte früh in Madrid zu Abend essen, den AVE nehmen und erst um ein Uhr in der Nacht zum Freitag zu Hause sein. Am nächsten Morgen hatten sie dann ihren Termin. Salgados Sekretärin Greta schlug ein Mittagessen vor, was mehr Zeit war, als Falcón mit dem Kunsthändler

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