Der Blinde von Sevilla
Spur. Der italienische Junge ist auf die Knie gesunken und betet. Ich sage, dass er den Mund halten soll, doch er brabbelt einfach weiter. R. wirft mir ein Seil zu. »Alle tot?«, fragt er. Ich zeige auf den Jungen zu meinen Füßen. R. nickt und sagt: »Es ist besser, wenn wir ihn umbringen.« Der Junge heult auf. Erst jetzt fällt mir auf, dass R. klatschnass ist. Er gibt mir eine Pistole.
»Ich brauche schon einen besseren Grund, um ihn zu töten«, protestiere ich.
»Er hat alles gesehen«, meint R.
»Vielleicht wird es Zeit, dass du dir auch mal die Hände schmutzig machst«, sage ich.
»Meine Hände sind schon schmutzig«, antwortet er.
Ich habe die Pistole in der Hand und schleife den heulenden Jungen zu einer Seite des Bootes. Sein Kopf sackt zur Seite, und seine Schluchzer bleiben ihm im Hals stecken. Ich setze die Waffe hinter seinem Ohr auf und schieße. Dann gebe ich R. die Pistole zurück und denke: Dazu bin ich also fähig.
Dieselbe Hand, die den Abzug gedrückt hat, führt jetzt den Stift, und ich kann nach wie vor kein bisschen besser verstehen, wie sie gleichzeitig ein Werkzeug der Schöpfung und der Zerstörung sein kann. Wir bringen beide Boote bis Korsika und werfen unterwegs die Leichen über Bord. Ich steuere das italienische Boot längsseits neben das andere, weil wir die Leichen nur zu zweit über Bord hieven können. Unter ihnen ist auch A. und ich schlage vor, dass wir ihm, mit einem Gebet die letzte Ehre erweisen. R. zuckt die Achseln. Also tue ich, was wir auch in der Legion immer mit einem gefallenen Kameraden getan haben. Ich rufe laut seinen Namen und antworte mit: »Hier!« Als wir ihn über die Wand heben, sehe ich, dass er zwei Schusswunden hat, eine in der Schulter und eine am Hinterkopf.
Wir entladen die Zigaretten und bringen die beiden Boote in Ajaccio in ein Trockendock, wo wir sie mit dem Geld aus dem Zigarettenverkauf überholen und umstreichen. R. verschwindet für einen Tag und kommt mit Papieren auf unsere Namen für beide Schiffe zurück. Dann fahren wir nach Cartagena, registrieren unsere Boote unter spanischer Flagge und benennen sie um. Wir haben keine Zeit, darüber zu reden, was geschehen ist, und während der Abstand zu dem Zwischenfall größer wird und jede Erinnerung an A. verschwindet, erkenne ich, dass es eines von R.s Talenten ist, Türen zuzumachen. Seine Bindung zu mir besteht darin, dass er mir die einzige Erinnerung anvertraut hat, die ihm etwas bedeutet, und das ist der Tod seiner Eltern.
Ich glaube, damals hat er beschlossen, dass Erinnerungen keinen Wert haben, sondern bloß stören, weil sie als Ersatz für den Verlust jeglichen Zugehörigkeitsgefühls nur wehmütige Nostalgie bieten.
14. März 1944
Ein Gespräch mit R.:
Ich: Was ist mit den Italienern passiert?
R.: Das hast du doch gesehen, du warst dabei.
Ich: Ich habe nicht gesehen, wie es angefangen hat.
R.: Warum hast du dann das Feuer eröffnet?
Ich: Die beiden Typen, die an Bord unseres Schiffes gekommen sind, hätten nicht dort sein sollen. Ich habe das Feuer beim ersten Anzeichen von Ärger eröffnet … wie befohlen.
R.: War das alles?
Ich: Ich habe einen Ruf gehört … wie ein Zeichen.
R.: Der Italiener hatte eine Pistole. Ich habe gerufen. Er hat geschossen. Er hat A. erschossen. Ich bin ins Wasser gesprungen. Dann habe ich die Salve deiner Maschinenpistole gehört und die Italiener auch. Sie sind abgehauen.
Ich: A. ist zweimal getroffen worden.
R.: Was soll das heißen?
Ich: Er wurde an der Schulter und in den Hinterkopf getroffen.
R.: Ich war im Wasser. Vielleicht hat der Italiener zweimal geschossen.
Ich: Woher hattest du die Pistole?
R.: Warum verhörst du mich?
Ich: Ich will wissen, was geschehen ist. Du hast gesagt, du hättest dir die Hände schmutzig gemacht. Du hast gesagt, manchmal müsste man sich erst beweisen, bevor man eine Erlaubnis bekommt.
Es folgt eine lange Pause, in der mir klar wird, dass ich nie wissen werde, was in R.s Kopf vor sich geht.
R.: Die Pistole gehörte einem der Italiener, die du erschossen hast.
Zumindest hat er mir eine Antwort gegeben, auch wenn es eine Lüge ist.
23. März 1944
Ich sammele weitere Informationen über die Nacht, die ich bei mir den Opernabend nenne. Ich gehe zu dem Amerikaner in Tanger, um ein weiteres Magazin für meine Maschinenpistole zu kaufen, und frage auch nach Munition für die Pistole, die er R. verkauft hat. Ohne zu fragen, gibt er mir eine Schachtel mit Patronen vom Kaliber.45. Nebenbei erzählt
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