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Der Blinde von Sevilla

Der Blinde von Sevilla

Titel: Der Blinde von Sevilla Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Wilson
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Punkten befriedigt.«
    »Wir sind alle Lügner, Inspector Jefe. Das ist einfach unsere Natur. Ich liebe meine Kinder, und alles in allem sind sie sehr brav, aber … sie lügen. Instinktiv. Denken Sie nur daran, wie oft Ihre Mutter ins Zimmer gekommen ist, um zu fragen, wer dieses Glas oder jene Tasse zerbrochen hat, und wie oft sie die Antwort zu hören bekam: ›Es ist einfach umgefallen.‹ Menschliche Wesen sind für die Unehrlichkeit geschaffen.«
    »Glauben Sie vielleicht, ich wüsste das nicht? Ich hätte es in meinem Beruf mit Leuten zu tun, die die Wahrheit sagen wollen?«, entgegnete Falcón. »Mord weckt mehr als jedes andere Verbrechen – mit Ausnahme von Vergewaltigung vielleicht – den Drang zu leugnen. Wenn wir also im Laufe einer Ermittlung auf jemanden stoßen, der ein machtvolles Motiv und eine ausgeprägte Neigung zur Verstellung hat, kommen wir natürlich immer wieder zurück, um herauszufinden, was er oder sie verbirgt.«
    »Und deshalb verschwenden Sie Ihre Zeit mit mir«, sagte sie.
    »Sie sind nicht offen zu uns.«
    »Ich habe eine eiserne Lebensregel, und die lautet, dass ich mich niemals selbst belüge.«
    »Und alle anderen Formen der Unwahrheit sind erlaubt?«
    »Stellen Sie sich vor, Sie würden einen ganzen Tag lang nur die Wahrheit sagen«, antwortete sie. »Was für einen Schaden Sie anrichten würden. Das politische System würde zusammenbrechen. Die Justiz würde einstürzen. Es wäre komplett unmöglich, auch nur eine einzige geschäftliche Transaktion durchzuführen. Und der Grund dafür ist, dass das alles von Menschen geschaffene Systeme sind, um Dinge zu regeln und zu erledigen. Selbst in der Mathematik und der Physik arbeitet man nach wie vor mit unvollkommenen Informationen, um definitive Wahrheiten zu bekommen. Nein, Inspector Jefe, die Wahrheit kriegen Sie nicht ohne Lüge.«
    »Und wo hatten Sie Gelegenheit, solch philosophische Gedanken zu entwickeln?«
    »Nicht in Sevilla«, antwortete sie. »Nicht einmal Basilio El Tonto mit all seiner blöden Bildung konnte mir in diesem Punkt Paroli bieten.«
    »Mein Vater hätte Ihnen zugestimmt«, sagte er. »Er fand, dass die Universität nur ein Vorwand für Idioten ist, ihr albernes Ideensystem in die Köpfe der Studenten zu hämmern.«
    »Ich mochte Ihren Vater … sehr«, sagte sie. »Ich vergebe ihm sogar seine kleine Hinterhältigkeit, mir seine ›Original‹-Kopien zu verkaufen.«
    Falcón rutscht auf seinem Stuhl hin und her. Die Frau verstand es, dem Druck seiner Fragen auszuweichen. »Beim Management der Restaurants zählt Sparsamkeit bestimmt zu Ihren herausragendsten Tugenden«, versuchte er es dann. »Und diese Sparsamkeit haben Sie nun lediglich auf den Umgang mit der Wahrheit ausgedehnt … hoffe ich.«
    »Ich bin hübsch verpackt, Inspector Jefe. Ich habe gelernt, mich zu präsentieren. Sie und möglicherweise die halbe Jefatura wissen Dinge über mich, die vorher nur ich wusste. Aber ich wusste sie, habe praktisch jeden Tag damit gelebt. Natürlich bekümmert es mich, wenn sie wie jüngst ans Licht gezerrt werden, aber ich habe jeden Instinkt unterdrückt, sie zu leugnen. Denn wenn Sie damit erst einmal anfangen, geraten Sie auf die Straße des Vergessens, und das ist eine Straße, auf der man nicht so einfach umkehren kann. Mein Mann hat das einzig mögliche Ende dieser Calle Negación erreicht.«
    »Nur dass er sich nicht selbst umgebracht hat, oder?«, sagte Falcón.
    »Er ist ein Opfer geworden. Er hat angefangen, sich in einer gefährlichen Welt zu bewegen. Ich habe nur einmal einen Zeh in diese Welt getaucht, und sie war kalt. Mein Mann hat vermutlich nur einen Aspekt dieser Welt begriffen, und zwar die Tatsache, dass Geld ihr Reptilienblut ist. Aber was glauben Sie, was die Leute, die in dieser Welt leben, sehen, wenn ein Mann wie Raúl Jiménez zu Besuch kommt? Ich kann es Ihnen sagen: Sie sehen nicht all die Stärken, die ihn zu einem erfolgreichen Geschäftsmann gemacht haben. Sie sehen einen blinden Mann, der durch eine ihm unbekannte Welt stolpert.«
    »Das ist nur ihre ganz eigne Theorie.«
    »Gestern hat Inspector Ramírez mir seine Theorie vorgetragen, und ich war ein Muster an Geduld«, sagte sie. »Außerdem war ich geschmeichelt, dass die geballte Autorität in der Jefatura es einer Frau zutraut, einen derart komplizierten Plan auszuführen. Allerdings gibt Raúls Tod mir die Kontrolle über sein Wirtschaftsimperium, sodass dieses Zutrauen vielleicht nicht komplett unbegründet scheint.«
    »Ein

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