Der Blinde von Sevilla
er mir, dass die Entscheidung der Alliierten, Vito Genovese in Neapel freie Hand zu lassen, das Beste war, was unserem Geschäft passieren konnte. Der Name sagt mir nichts. Der Amerikaner erklärt mir, dass er ein Gangster der Camorra ist, die, wie ich später herausfinde, neapolitanische Version der sizilianischen Mafia.
R. hat sich verändert, seit wir ins Geschäft eingestiegen sind. Er ist nicht mehr so liebenswert wie vorher. Seinen Charme schaltet er jetzt nach Bedarf an und ab. Mir kommt der Gedanke, dass R. mit dieser einzigen, brennenden Erinnerung an die Erschießung seiner Eltern auf die Welt losgelassen worden ist. Meine gedankenlose Bemerkung, dass sie eben gerade wegen seines Geschäftssinns getötet worden sind, muss ihn durchbohrt haben wie ein glühend heißes Bajonett. Die Schuldgefühle, die ich ihm eingeimpft habe, haben ihn skrupellos und brutal gemacht. Mich hat er zu seinem Partner gemacht. Warum, weiß ich nicht, denn er scheint gar keinen Partner mehr zu brauchen.
30. März 1944, Tanger
R. hat mir meinen Lohn von 100 Dollar ausgezahlt. Er sagt mir, ich solle das Geld in Dollar lassen und nur für den täglichen Bedarf in Peseten tauschen. Ich erkläre ihm, dass ich zu meinem Leben als Künstler zurückkehren will, und er antwortet, ich hätte nichts gelernt.
Ich: Es ist das, was ich tun muss.
R.: Das respektiere ich. (Das tut er überhaupt nicht.)
Ich: Wie du gesagt hast, jeder muss für sich selbst denken.
R.: Entschuldige, aber was du machst, ist nicht denken.
Ich: Ich will sehen, wie weit ich es bringen kann.
R.: Glaubst du, Erfolg in der Kunstwelt hätte irgendetwas mit Talent zu tun?
Ich: Es hilft.
R.: Dann bist du ein Idiot.
Ich: Du glaubst nicht, dass van Gogh, Gauguin, Manet und Cézanne Talent hatten, wenn du überhaupt weißt, wer das ist?
R.: Ein Idiot denkt immer, dass alle anderen auch dumm sind. Natürlich weiß ich, wer sie sind. Diese Männer waren und sind Genies.
Ich: Und ich nicht?
Er zuckt die Achseln.
Ich: Und seit wann bist du ein Kunstexperte?
Er zuckt erneut mit den Schultern und nickt einigen Passanten zu. Wir sitzen vor dem Café de Paris am Place de France.
Ich: Woher weiß ein Bauernjunge aus einem staubigen Pueblo vor Almería irgendetwas über Kunst?
R.: Wie wird ein Ex-Legionär zum Genie? Wirst du deine Werke mit El Marroquí signieren?
Ich: Genie ist nicht selektiv.
R.: Aber wer entscheidet das? Waren Gauguin und van Gogh schon zu Lebzeiten berühmt?
Ich: Wie kommst du darauf, dass ich berühmt werden will?
Er sagt nichts, sieht mich jedoch weiter eindringlich an, bis mir klar wird, dass ich einem Mann gegenübersitze, der sein Milieu gefunden hat, einem Mann, der sich in seinem Sein absolut wohl fühlt und etwas in mir erkannt hat, das ich selbst nicht gesehen habe.
R.: Warum führst du dieses Tagebuch? Warum schreibst du dein Leben auf?
Ich: Ich schreibe nur auf, was mir passiert und einfällt.
R.: Aber warum?
Ich: Es ist nicht für die Öffentlichkeit bestimmt.
R.: Wofür ist es dann?
Ich: Es ist eine Aufzeichnung, genau wie deine Geschäftsbücher.
R.: Es erinnert dich daran, wo du in der Welt stehst?
Ich: Genau.
R.: Du glaubst nicht, dass Menschen sie lesen und denken werden: »Was für ein außergewöhnlicher Mensch!«?
Das denke ich manchmal schon, aber ich gebe es natürlich nicht zu.
R.: Jeder, der was draufhat, muss ein bisschen eitel sein.
1. April 1944
Wir machen unsere erste Pause, damit R. herausfinden kann, wie die Banken vorgehen. Derweil wohnen wir in der Residencial Amería. Hier sind alle Nationalitäten versammelt, darunter jede Menge allein stehende Frauen, die für die Firmen arbeiten, die sich seit Beginn des Krieges hier niedergelassen haben.
R. genießt sein Geld. Er lässt sich von einem französischen Juden am Petit Soco einen Anzug schneidern, den er trägt, wenn er die Banken besucht. Er isst in einem Restaurant im Grand Hôtel Villa de France, das von einer spanischen Familie geführt wird. Nach dem Essen macht er einen kurzen Spaziergang die Rue Hollande hinunter und den Hügel wieder hinauf zum Hotel El Minazh, wo er einen Kaffee und einen Brandy zu sich nimmt. Seine Eitelkeit besteht darin, dass er sich für wohlhabend halten möchte. Es funktioniert, denn er knüpft Kontakte und macht Geschäfte in diesen Lokalen. Hier wimmelt es nur so vor Schwarzmarkthändlern, die Leute wie R. suchen, um ihre Waren nach Europa transportieren zu lassen.
Ich sitze gern in der Medina vor dem Café
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