Der Blinde von Sevilla
konstant … aber höher als bei den meisten anderen«, sagte er.
»Es würde mich interessieren«, meinte Falcón, als er plötzlich die Gelegenheit erkannte, »wie du deine Angst unter Kontrolle kriegst?«
»Auch nicht anders als du, wenn du einem bewaffneten Mann gegenüberstehst.«
»Ich dachte an eine andere Angst.«
»Angst ist Angst, egal ob du den Tod vor Augen hast oder irgendwer Buh! sagt.«
»Du bist der Fachmann«, sagte Falcón lachend und packte Pepe im Nacken, weil er seine Zuneigung für den Jungen nicht für sich behalten konnte. Vielleicht war es das falsche Gesprächsthema, dachte er, er würde ihn mit seinen verrückten Ideen nur anstecken.
Doch Pepe hakte nach. »Sag mir, was dir Sorgen macht, Javier. Wie gesagt, Angst ist mein Spezialgebiet. Ich würde gern helfen.«
»Du hast Recht … wir fürchten uns vor Sachen, die von außen kommen … du vor dem Stier, ich vor dem bewaffneten Mann. Sie sind beide unberechenbar. Doch das sind bloß Momente der Furcht. Wir haben furchtbare Angst, stellen uns ihr, und dann ist es vorbei.«
»Na bitte, du weißt genauso viel wie ich. Die Fähigkeit, seine Angst zu beherrschen, ergibt sich aus deiner Ausbildung, aus deiner Bereitschaft und der Unvermeidlichkeit, sich ihr zu stellen.«
»Der Unvermeidlichkeit?«
»Du bist dem Staat gegenüber verpflichtet, dich zum Wohle der Bürger Sevillas mit gefährlichen Verbrechern abzugeben. Und ich bin durch meinen Vertrag gebunden, gegen einen Stier zu kämpfen. Das ist eine unvermeidliche Verantwortung, vor der wir nicht zurückschrecken dürfen, sonst werden wir nie wieder arbeiten. Die Unvermeidlichkeit hilft.«
»Deine Angst zu versagen ist größer als deine Angst vor dem Stier.«
»Wenn man an all die Soldaten denkt, die in den Kriegen gekämpft haben, in denen zum Teil die zerstörerischsten Waffen eingesetzt wurden, die die Menschheit kennt … wie viele von ihnen waren wohl Feiglinge? Wie viele sind weggelaufen? Nur sehr wenige.«
»Vielleicht bedeutet das bloß, dass wir eine enorme Bereitschaft haben, das Schicksal zu akzeptieren.«
»Warum soll man versuchen, das Unkontrollierbare zu kontrollieren? Ich könnte meine Karriere als Torero morgen aufgeben, weil ich zu große Angst vor Verletzung und Tod habe, während ich gleichzeitig weiterhin belebte Straßen überquere, auf Autobahnen fahre und in Flugzeugen fliege, in denen ich ebenso leicht ein unheldenhaftes Ende finden könnte.«
»Gut, das ist die Unvermeidlichkeit. Was ist mit der Bereitschaft, sich seiner Angst zu stellen?«, fragte Falcón. »Das kommt mir ziemlich mutig vor.«
»Das ist es auch. Wir sind mutig. Und das ist nicht das Gleiche wie furchtlos. Es ist ein Erkennen. Es ist das Eingeständnis der Schwäche und die Bereitschaft, sie zu überwinden.«
»Redest du oft darüber?«
»Mit einigen der intelligenteren Toreros schon, aber es ist keine Zunft, die für ihre großen Denker berühmt ist. Aber wir alle haben damit zu tun, selbst die Größten von uns. Weißt du noch, was Paquirri gesagt hat, als ihn ein Journalist fragte, was das Schwierigste ist, wenn man einem Stier gegenübertritt? ›Spucken‹, hat er gesagt. Nada mas. «
»Als ich zum ersten Mal einem bewaffneten Mann gegenübertreten musste, hat ein Vorgesetzter vor dem Einsatz gesagt: ›Vergessen Sie nicht, Falcón, Mut ist immer retrospektiv. Man hat nur genug davon, wenn man es hinter sich hat.‹«
» Das stimmt«, sagte Pepe, »und deswegen können wir auch miteinander reden, Javier.«
»Aber mich hat jetzt eine andere Angst gepackt«, sagte Falcón, »eine Angst, wie ich sie nie zuvor gespürt habe. Ich lebe in einem Zustand permanenter Furcht, und das Schlimmste daran ist, dass es nicht einmal einen bewaffneten Mann oder einen Stier gibt. Es spielt keine Rolle, wie mutig ich bin, weil ich niemandem gegenübertreten kann … außer mir selbst.«
Pepe runzelte die Stirn. Falcón tat das Problem mit einer Handbewegung ab.
»Ist auch egal«, sagte er. »Ich hätte es gar nicht erwähnen sollen. Ich hab mich bloß gefragt, ob es vielleicht irgendwelche Insidertricks gibt, eine Methode, mit der Toreros, die mit der Angst leben, sich selbst einreden …«
»Nie«, sagte Pepe. »Was das angeht, belügen wir uns nie. Das ist eine der großen Ironien. Man braucht die Angst. Man ist dankbar für sie, obwohl man sie hasst, weil es die Angst ist, die einem hilft zu sehen. Es ist die Angst , die einen rettet.«
Die Tagebücher
des Francisco Falcón
7. Juli
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