Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Blinde von Sevilla

Der Blinde von Sevilla

Titel: Der Blinde von Sevilla Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Wilson
Vom Netzwerk:
abzuschneiden, während Falcón Fino ausschenkte.
    Juanita deckte einen Tisch im Patio und stellte Oliven und weitere pinchos hin. Paco kam mit einem Teller geschnittenen jamón. Dann traf auch Manuela mit ihrem Anhang ein, und alle standen auf dem Hof, tranken Fino und riefen den Kindern zu, sie sollten aufhören herumzurennen. Die einzige Erwachsene, die sich mit Bemerkungen über Falcóns Gewichtsverlust zurückhielt, war Alejandros Schwester, die selbst nicht dicker war als eine Gottesanbeterin.
    Paco war äußerst zufrieden und gleichzeitig aufgeregt wegen seiner Stiere, die er alle in perfektem Zustand für den morgigen Stierkampf angeliefert hatte. Bei dem retinto , den Manuela behandelt hatte, konnte man die Hornwunde noch erkennen, doch er war sehr stark. Paco nannte ihn »Biensolo« und erklärte Javier, dass die Hornspitzen ungewöhnlich nach oben geschwungen waren und der Zwischenraum dementsprechend schmal. Ihm den tödlichen Stoß zu versetzen würde in jedem Fall schwierig werden, auch wenn er den Kopf gesenkt hielt.
    Um vier Uhr saßen sie beim Lammbraten. Manuela bemerkte sofort die Qualität des Weines und fragte Javier, wie viele weitere Flaschen er denn noch bunkere. Um sie abzulenken, berichtete Falcón von der Urne, und sie wollte sie sich ansehen. Als das Essen vorbei war und Paco seine erste Montechristo anzündete, holte Falcón die Urne aus dem Keller. Sie erkannte sie sofort.
    »Das ist ja seltsam«, sagte sie. »Komisch, dass Papá Mamas Schmuck verloren hat, während das hier die Reise von Tanger überstanden hat.«
    »Ach, er hat doch nie was weggeworfen, Manuela«, sagte Paco.
    »Aber die gehörte Mamá. Ich kann mich daran erinnern. Sie stand zwei oder drei Tage auf ihrer Kommode … etwa einen Monat vor ihrem Tod. Ich habe sie gefragt, was es war, weil es so anders aussah als alles andere auf ihrer Kommode. Ich dachte, es wäre vielleicht ein Trank, den ihre einheimische Magd gemischt hatte. Sie sagte, es würde den Geist des reinen Genies enthalten und dürfte nie geöffnet werden – seltsam, nicht?«
    »Sie hat bloß einen Spaß mit dir gemacht, Manuela«, sagte Paco.
    »Wie ich sehe, hast du sie geöffnet«, bemerkte sie. »Und irgendein Genius?«
    »Nein«, sagte Falcón. »Es sah eher aus wie gemahlene Knochen und Zähne.«
    »Das klingt aber nicht besonders spirituell«, sagte Paco.
    »Eher makaber«, ergänzte Javier.
    »Ich hätte gedacht, bei all dem Blut, das du im Zusammenhang mit deiner Arbeit siehst, könntest gerade du den Anblick von ein paar trockenen alten Knochen ertragen, Kleiner«, sagte Manuela.
    »Aber zerstoßen? Das kam mir irgendwie brutal vor.«
    »Woher willst du wissen, dass sie von einem Menschen stammen? Es könnten auch die alten Knochen einer Kuh oder eines anderen Tiers sein.«
    »Aber warum der ›Geist des reinen Genies‹?«, fragte Falcón.
    »Du weißt doch, wer ihr die Urne geschenkt hat, oder?«, fragte Paco. »Papá … vor langer Zeit. Damals passierten im Haus eine Reihe merkwürdiger Dinge. Wisst ihr nicht mehr? Mamá hat im Patio ein Feuer entzündet. Wir kamen von der Schule zurück, und neben dem Feigenbaum war ein großer schwarzer Fleck auf dem Boden.«
    »Da war er noch zu klein«, sagte Manuela. »Aber du hast Recht. Am nächsten Tag hat er ihr die Urne geschenkt. Und noch etwas Seltsames – die wunderbare Skulptur, die er Mamá im Jahr zuvor zum Geburtstag geschenkt hatte … verschwand. Sie stand immer neben dem Spiegel. Sie hat sie wirklich geliebt. Ich habe sie gefragt, was damit geschehen war, und sie sagte bloß: ›Der Herr hat’s gegeben, und der Herr hat’s genommen.‹«
    »Ungefähr zu der Zeit hat sie auch angefangen, täglich zur Messe zu gehen«, sagte Paco.
    »Ja, vorher ist sie immer bloß einmal pro Woche gegangen«, sagte Manuela. »Und sie hat auch ihre Ringe nicht mehr getragen, nur noch den billigen Achat-Würfel, den Papá ihr zum Geburtstag geschenkt hatte. Daran erinnerst du dich doch bestimmt noch, kleiner Bruder.«
    »Nein, das tue ich nicht.«
    »Papá hat dir das Geschenk für sie gegeben, und du solltest es ihr bei ihrem Geburtstagsessen überreichen. Sie hat die Schachtel ausgepackt, der Deckel sprang auf, klappte gegen deine Nase, und eine Papierblume schnellte hervor. In der Blume war der Ring versteckt. Es war sehr romantisch. Mamá war gerührt.«
    »Sie muss gewusst haben, dass ihr irgendetwas passieren würde«, sagte Paco. »Ständig zur Messe zu gehen und nur den einen Ring zu tragen, den

Weitere Kostenlose Bücher