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Der Blinde von Sevilla

Der Blinde von Sevilla

Titel: Der Blinde von Sevilla Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Wilson
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wirft einen Blick auf Javier, hebt ihn hoch und trägt ihn nach draußen auf die Veranda. Bei beiden ist es Liebe auf den ersten Blick. Während M.G. und ich uns unterhalten, müssen wir immer wieder zu den beiden blicken und kommen uns vor wie abgewiesene Liebhaber auf einem Ball.
    M.G. ist angetan von meinen Arbeiten, hat jedoch in B.H.s Sammlung die Zeichnung von P. gesehen. Er fragt mich, ob ich diese Idee in Farbe weiterentwickelt hätte, und sagt: »Darin liegt Ihre Zukunft, wenn Sie mich fragen.«
    Später erzählt mir M. dass M.G.s »altes Geld« aus der Stahlbranche stammt, sein »neues Geld« aus Investitionen in Zukunftsmärkte. Anscheinend kann man auf diesen Märkten auf den zukünftigen Preis eines Produktes wie Getreide, Zucker oder sogar Schweinehälften setzen (was für mich nicht nach Arbeit klingt), und mir wird klar, wie klein meine Welt geworden ist. Wegen meines Talents halte ich die Kunst für wichtig, doch nun erkenne ich, dass ich von einer kleinen Gruppe wohlhabender Menschen abhängig bin, die meine Werke kaufen und ihrerseits ein Vermögen machen, indem sie auf Schinken setzen. Diese Erkenntnis ist eine Art Erleuchtung, vielleicht eine umgekehrte, da ich mich jetzt als einen von M.G.s Zukunftsmärkten sehe. Er betrachtet meine Schweinehälften und fragt sich, ob es sich lohnt, Geld darauf zu setzen. Ich sage M. er solle Chaim Soutines Der ausgeweidete Ochse kaufen, was sie offenbar nicht komisch findet, aber ich glaube, der alte litauische Jude selbst hätte gelacht.

    3. September 1957
    R. ist zufrieden mit der königlichen Charta von Mohammed V. die vor einigen Tagen in Kraft getreten ist. Der Geldmarkt bleibt unkontrolliert, Importe und Exporte unbeschränkt. Die lokale Wirtschaft ist begeistert. Ich bin in eine schwarze Depression versunken. M. und M.G. sind abgereist. Vorher haben sie eine meiner »Menschenlandschaften« gekauft, sodass nicht alles vergeblich war. Ich habe M. ein (sehr) kleines Gemälde von einer Reihe von Rinderhälften geschenkt, die im Kühllager eines Schlachters hängen. Zwischen all den Tierkadavern habe ich ein kleines Selbstporträt versteckt, bei dem ich mit einem Stahlhaken durch die Achillesferse an den Füßen aufgehängt bin, Brust und Bauch aufgeschlitzt. M. schimpft mich einen Zyniker, behält das Bild jedoch. »Weil ich weiß, dass du eines Tages berühmt sein wirst.« Ich nenne das Werk Zukunft in der Kunst. Jetzt halte ich mir den Bauch vor Lachen über meinen albernen Witz, weil ich weiß, dass ich eine jämmerliche Wahrheit berührt habe. Ich arbeite nicht in einer heiligen Welt. Ich bewege mich auf einem Markt. Da stehen wir und streben nach höherer Wahrheit, während wir in Wirklichkeit alle tief im Schlamm des Kommerzes stecken.
    Ich verlasse mein Atelier und ziehe spontan die Zeichnungen von P. hervor (die ich zu Hause aufbewahre, weil ich meine Tage sonst damit verbringen würde, sie anzustarren). Ich laufe auf und ab wie bei einer Truppenparade, bis ich merke, dass P. ins Zimmer gekommen ist. Ich erkläre ihr, dass ich nach einem Weg suche, die Arbeit voranzubringen. Mit prophetischer Stimme verkündet sie: »Du wirst sie erst voranbringen können, wenn du darüber hinaussehen kannst.« Ich frage sie, was sie damit meint. »Du siehst nur, was da ist«, erwidert sie, und ich bin genauso ratlos wie vorher.

28
    Montag, 23. April 2001, Plaza del Pan Sevilla

    Schon um 8.30 Uhr wartete Falcón vor der Werkstatt des Juweliers. Zehn Minuten später tauchte der alte Mann schließlich auf. Falcón folgte ihm in einen Raum, in dem überall Wanduhren und an mit kleinen Haken versehenen Regalen hunderte von Armbanduhren hingen. Auf der Werkbank lagen die Eingeweide diverser Uhrwerke.
    »Sind Sie nicht Juwelier?«, fragte Falcón.
    »Ich war Juwelier«, sagte der alte Mann. »Jetzt bin ich im Ruhestand. Ich denke, dies ist eine angemessene Arbeit für einen Mann meines Alters. Es ist immer gut, ein waches Auge auf die Zeit zu haben, wenn nur noch so wenig davon übrig bleibt. Was haben Sie für mich?«
    »Ich möchte, dass Sie die Silberqualität eines Rings einschätzen«, sagte Falcón und zeigte seinen Dienstausweis.
    Der alte Mann setzte sich, zog eine Lupe hervor und leerte die Plastiktüte mit dem Beweisstück auf ein Stück Samt, das auf der Werkbank lag.
    »Er ist erweitert worden«, stellte er sofort fest. »Man hat ein anderes Silber benutzt. Das Original ist aus Sterling-Silber, das zu mindestens 92,5 Prozent reines Silber ist. Das andere

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