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Der Blinde von Sevilla

Der Blinde von Sevilla

Titel: Der Blinde von Sevilla Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Wilson
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1956, Tanger
    Ich sollte mir mehr Sorgen über die Vorkommnisse machen. Ich trinke nach wie vor meinen Kaffee mit R. im Café de Paris, und allenthalben redet man von einem unabhängigen Marokko und was dann mit uns geschehen wird, den Lotosessern in Tanger. (Vielleicht bin ich der einzige Lotosesser, und alle anderen sind bloß in einem Steuerparadies.) Aber das ist mir egal. Ich lasse mich treiben. Ich muss kaum noch rauchen, weil mein natürlicher Zustand federleicht ist. In meinem Atelier ist es himmlisch, wenn Javier vor sich hin brabbelt, ohne je zu weinen. Ich erschrecke mich selbst, weil mein Verstand mich abends, wenn ich dieses Tagebuch schreibe, unvermittelt anpiekst und sagt: Du bist glücklich. Ich denke es, und sofort wird meine Zufriedenheit von düsteren Gedanken zerfetzt. Noch immer keine Nachricht von M. Die Atmosphäre in der Medina ist angespannt, als wären die engen Gassen von Benzindämpfen erfüllt – ein Funke, und alles geht in die Luft. Die Menschen spüren Unabhängigkeit. Sie stehen auf der Schwelle und sind überzeugt, dass sie danach genauso frei und reich sein werden wie die Ausländer. Die Langsamkeit des politischen Prozesses lässt ihre Wut und Frustration an die Oberfläche brechen.

    18. August 1956, Tanger
    Aufruhr in der Medina, der sich bis zum Grand Soco ausbreitet. Kein Europäer oder Amerikaner wagt sich auf die Straße. Fenster werden eingeschlagen, Läden geplündert. Abends klagen die Frauen, ein Geräusch, das für Europäer erschreckend ist, animalisch und bedrohlich wild wie das Lachen von Hyänen oder der Schrei läufiger Füchsinnen. Am Morgen sind die Straßen voller Männer und Jungen, die das Istiqual-Lied singen, die Unabhängigkeitshymne, und mit drei Fingern grüßen (Allah, den Sultan und Marokko). Porträts von Mohammed V. schwimmen auf einer wogenden Menschenmenge, dann kippt die Stimmung wieder um. Ich bleibe zu Hause. P. ist nervös, vor allem nachts, und auch die warme Milch beruhigt sie jetzt nicht mehr. Bis die einheimische Magd sie über geriebene Mandeln gießt, die Magen und Geist beruhigen. Es funktioniert. Diese Menschen wissen Dinge, die wir vergessen haben.

    26. Oktober 1956, Tanger
    Es ist vollbracht. Der besondere Status Tangers ist aufgehoben worden. Die internationale Kontrolle ist zu Ende, aber der monetäre, ökonomische und kommerzielle Zustand unseres Wirtschaftsutopia wird andauern, bis der Sultan eigene Ideen entwickelt hat. R.s Kontakte versichern ihm, dass die sich nicht groß von denen des ancien régime unterscheiden werden. Am Ende regiert doch das Geld (sogar über Nationalstolz und islamischen Eifer), obwohl man den Verkauf von Alkohol im Umkreis von 50 Metern um eine Moschee verboten hat, womit alle Kaschemmen der Medina am Ende sind. R. hat nicht vor, die Stadt zu verlassen. Ich sehe ihn nach wie vor im Café de Paris, doch jetzt wird er von Männern in Kaftan, Fez und klobigen Brillen umringt.

    26. Oktober 1956, Tanger
    Jetzt weiß ich, warum M. so still war. Ein amerikanischer Schriftsteller (jeder Zweite ist dieser Tage Schriftsteller), der behauptet, ein Freund de Koonings zu sein, hat M. bei einem Abendessen in NY getroffen. Sie war in Begleitung ihres neuen Ehemannes, eines 69-jährigen Mäzens und Sammlers namens Milton Gardener. Ich bin perplex und komme mir blöd vor. Ich fühle mich instinktiv betrogen, frage mich jedoch später, was ich erwartet habe. Ich habe nicht die Absicht, P. zu verlassen.

    15. Juni 1957, Tanger
    Vor drei Tagen ist M. mit ihrem Mann eingetroffen, dessen voller Name Milton Rorschach Gardener IV lautet. Wir treffen uns auf einem Empfang im El Minzah. Ich bin entzückt und versuche, M. bei der erstbesten Gelegenheit zu überreden, in eins der leeren Zimmer oben zu verschwinden, doch sie verweist mich ruckzuck auf meinen Platz. Sie stellt mir M.G. vor, der leider kein tattriger alter Idiot ist, sondern ein sehr großer, stattlicher und beeindruckender Mann. Er hat einen Stock und ein Knie, das beim Beugen ein metallisches Klicken von sich gibt. Sie bitten mich, das Atelier besuchen zu dürfen.
    Sie kommen am nächsten Tag, als ich Javier, der inzwischen in einen hölzernen Laufstall gesperrt werden muss, gerade meine neuen, ineinander greifenden, gegenständlichen Landschaften erkläre. Beunruhigend an dieser Entwicklung ist, dass man diese strukturierten menschlichen Landschaften als eine Darstellung der spirituellen Verbundenheit aller Menschen deuten kann – an die ich gar nicht glaube. M.

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