Der Blinde von Sevilla
dass das Tagebuch fehlte, dass seine Entlarvung und das Ende seiner Welt unmittelbar bevorstanden«, sagte der Mann. »Es ist so leicht, sich auf den harten Marmor zu stürzen und alles seinem Lieblingssohn zu überlassen.«
Das brachte Falcón zum Schweigen. Mit wachsendem Druck in seinem Kopf saß er da, und der Boden seiner Erinnerung ächzte unter dem alten Gewicht.
»So funktioniert das Bewusstsein. Es ist langsam. Die Hochsicherheitsmauern der Leugnung zu überwinden, ist schmerzhaft«, sagte die Stimme. »Aber den Luxus von Zeit haben wir nicht. Sag mir, warum dein Vater deiner Ansicht nach wollte, dass du diese Tagebücher liest?«
»Das wollte er nicht. Das hat der Brief deutlich gemacht.«
»Was hat er deutlich gemacht?«, fragte die Stimme scharf zurück. »Glaubst du ernsthaft, dass er erwartet hat, dass du, ein Kommissar, den Brief beiseite legst und dein Leben weiterlebst?«
»Warum nicht?«
»Pass auf, Javier. Ich spreche es für dich aus. Dieser Brief fordert dich auf , die Tagebücher zu lesen. Und warum tut er das?«
»Damit ich … damit ich den Schmerz seines gequälten Lebens teilen konnte?«
»Ist das eine Zeile aus einem Film? Etwas Nettes und Sentimentales aus Hollywood vielleicht?«, fragte die Stimme. »Solchen Mist werde ich hier nicht dulden, Javier. Und jetzt sag mir, warum – ich klinge schon wie dein Vater mit Salgado – sag mir, warum wollte er, dass du die Tagebücher liest?«
»Damit ich lernen konnte, ihn zu hassen?«
»Du bist so jämmerlich bedürftig, Javier«, sagte er. »Warum hat er deine detektivischen Fähigkeiten in so hohen Tönen gepriesen und bemerkt, dass sie dir beim Aufspüren des fehlenden Tagebuchs nützlich sein würden?«
Javier wehrte sich heftig gegen die Idee, die ihm gerade gekommen war. Selbst jetzt noch klammerte er sich daran fest. Es war alles, was er hatte, eines der wenigen Dinge, die ihn aufrecht hielten. Die 43 Jahre währende Liebe seines Vaters. Und selbst die Liebe eines Monsters gab man nur schwer auf.
»Soll ich dir ein bisschen helfen, Javier?«, fragte die Stimme. »Ich lese nicht alles vor … nur die relevanten Stellen. Bist du bereit?«
7. April 1963, NY
Auf dem Weg nach NY hat Salgado vorgeschlagen, dass ich vor der Ausstellung des letzten Falcón-Aktes meine Tagebücher veröffentlichen sollte. Die Vorstellung lässt mich in entsetzter Heiterkeit würgen. Was für eine fantastische Enthüllung das wäre. Ich lache unter heftigem Schluckauf. Den Floh hat ihm Mercedes ins Ohr gesetzt. Ich habe gesehen, wie sie ihre Pläne ausgeheckt haben, und M. hat mich schon mehrmals irritiert, indem sie lautlos vorbeischwebte, als ich mit meinen anfallsartigen Kritzeleien beschäftigt war. (Sie hat ein Paar ganz feiner und lautloser, goldener Sandalen – ich muss wohl Nussschalen ausstreuen, um zu hören, wann sie naht.) Ich weise Salgados Vorschlag mit Nachdruck zurück, was seine Faszination nur steigert.
31. Dezember 1963, Tanger
Ich war achtlos, und das hat alles verändert. M. und ich waren gestern im Atelier. Die Kinder waren unten auf der Straße so aufgeregt in ihr Spiel vertieft, dass sie es nicht abwarten konnten, zum weichen Sand des Strandes zu kommen. Javier, der verzweifelt mithalten wollte, ist gefallen und hat sich den Kopf aufgeschlagen. Sein Gesicht war blutüberströmt. Ich bin aus dem Atelier nach unten gerannt, habe ihn auf die Rückbank des Wagens gelegt und bin direkt ins Krankenhaus gefahren, wo die Wunde mit ein paar Stichen genäht wurde. Als ich ins Atelier zurückkam, bemerkte ich sofort, dass sich alles verändert hatte.
Und was hat sich tatsächlich verändert? Wir sind immer noch Mann und Frau, wir leben im selben Haus und feiern heute Abend immer noch eine Silvesterparty.
Als ich aus dem Krankenhaus zurückkam, fragte M. nicht direkt nach Javier, den ich zu Hause beim Hausmädchen zurückgelassen hatte. Sie war auf der Veranda und sah mich an, als wäre ich ein einsamer Wolf auf einem Eisfeld. Ich ging auf sie zu und berichtete von Javier wie bei einem Vorsprechen. Sie ging um mich herum zurück in den Raum. Ich sagte ihr, Javier wäre zu Hause und wollte sie sehen. Sie stürzte förmlich zur Tür. In frostigem Schweigen fuhren wir nach Hause, während Paco und Manuela sich auf dem Rücksitz stritten. Sie ging nach oben, ich in mein Arbeitszimmer.
Dort bin ich jetzt Stunden später immer noch und beobachte ihren Schatten an der Decke von Javiers Zimmer. Es ist schon dunkel, nur noch eine Frage von
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