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Der Blinde von Sevilla

Der Blinde von Sevilla

Titel: Der Blinde von Sevilla Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Wilson
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Zeichnung erneut, ging in die Hocke, hielt sein Gesicht dicht vor meins und starrte mit seinen stahlblauen Augen in mich hinein. »Wer bist du?«, fragte er, was eigenartig war. Ich hielt es für klüger, nicht mit meinem Namen zu antworten, und schwieg. Er erklärte mir, dass die Zeichnung gut sei und er fortan mein Lehrer sein würde, andererseits aber einen Ruf zu wahren habe. Also bekam ich trotzdem Prügel.

    17. Oktober 1932, Dar Riffen
    Ich habe Oscar gestanden, dass ich erst zweimal Einträge in das Buch geschrieben habe, seit er es mir geschenkt hat. Er ist wütend. Ich erkläre ihm, dass ich nichts zu berichten habe. Unser Leben besteht aus dauernden Übungen, gefolgt von kurzen Trinkgelagen und Gefechten. Er erinnert mich daran, dass ein Tagebuch nicht nur ein Bericht über die äußere Welt, sondern auch eine Untersuchung des Innenlebens sein sollte. Ich habe keine Ahnung, wie ich dieses Innenleben, von dem er spricht, angehen soll. »Du musst darüber schreiben, wer du bist«, sagte er. Ich zeige ihm meinen ersten Eintrag. Er sagt: »Bloß weil du keine Familie hast, hast du nicht aufgehört zu existieren. Sie sind nur ein Bezug. Jetzt musst du deinen eigenen Kontext finden.« Ich schreibe es auf, ohne zu wissen, was es bedeutet. Er erklärt mir, dass ein französischer Philosoph einmal gesagt hat: »Ich denke, also bin ich.« Ich frage: »Was heißt denken?« Es entsteht eine lange Pause, in der ich aus irgendeinem Grund einen Zug vor mir sehe, der durch eine endlose Landschaft fährt. Das erzähle ich ihm, und er sagt: »Nun, das ist ein Anfang.«

    23. März 1933, Dar Riffen
    Ich habe gerade mein erstes größeres Werk abgeschlossen, Karikaturen sämtlicher Mitglieder unserer Kompanie, jeder auf seinem eigenen Kamel, das einige Züge von ihnen angenommen hat. Diese Einzelbilder klebe ich auf Bretter, die ich in der Kaserne aufhänge, sodass es aussieht, als würden sie in einer langen Karawane zum Bogen von Dar Riffen reiten, und statt des üblichen Legionärsmottos – Legionariosa luchar , Legionarios amorir steht da: legionarios a beber , legionarios a joder , saufen und ficken statt kämpfen und sterben. Alle Offiziere kommen zu mir und wollen das Werk sehen. Oscar reißt meine Karikaturen von der Wand und sagt: »Du willst doch nicht wegen einer albernen Zeichnung vors Kriegsgericht gestellt und erschossen werden.« Jetzt mangelt es mir zumindest nie mehr an Zigaretten.

    12. November 1934, Dar Riffen
    Gerade sind Oberst Yagüe und die Legion zurückgekehrt, die in Asturien die Bergarbeiterrebellion niedergeschlagen haben … Oscar ist zornig. Es hat keinerlei Widerstand gegeben, und nachdem los brutos Oviedo und Gijón befreit haben, haben sie »einen Mangel an Disziplin gezeigt und wurden von ihrer Führung nicht zurückgehalten«. Das heißt, sie haben, ohne Angst vor Strafe, gemordet, vergewaltigt und gemetzelt. In diesem Gespräch offenbart Oscar, dass er Deutscher ist, und langweilt mich mit der Behauptung, dass sich ein deutscher Soldat nie so benehmen würde. »Das ist der Beginn einer Katastrophe«, sagt er. Ich sehe das nicht so und finde die immer wieder erzählten blutigen Geschichten nur aufregend. Offenbar habe ich immer noch nicht gelernt zu denken. In all den Geschichtsbüchern, die ich unter Oscars erhobenem Zeigefinger gelesen habe, ist mir aufgefallen, wie oft die Denker weggeschafft, erschossen, gehängt oder enthauptet werden.

    17. April 1935, Dar Riffen
    Mein zweites großes Werk – Oberst Yagüe möchte, dass ich ihn porträtiere. Oscar gibt mir Ratschläge: »Niemand sieht gern die Wahrheit, es sei denn sie entspricht zufällig seinem Selbstbild.« Erst als Oberst Yagüe vor mir sitzt, begreife ich, worauf ich mich eingelassen habe. Er ist ein Stier von einem Mann mit einer Brille mit dicken runden Gläsern, grauem schütterem Haar, ausgeprägten Hängebacken und einem angedeuteten Lächeln, das beinahe freundlich wirkt, bis man die Brutalität darin erkennt. Ich platziere ihn so, dass sein verhängnisvolles Profil nicht zu sehen ist, und frage ihn, ob er seine Brille aufbehalten will. Er erklärt mir, ohne sehe er aus wie ein Welpe. Über einem Stuhl sehe ich einen Mantel mit Pelzkragen hängen und fordere ihn auf, ihn überzuziehen, weil er seinem Gesicht einen Rahmen geben und ihm eine abenteuerliche, heroische Aura verleihen wird. Er zieht ihn an. Wir werden gut miteinander auskommen.

    Mai 1935, Dar Riffen
    Das Porträt ist ein Triumph. Es gibt eine kleine private

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