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Der Blinde von Sevilla

Der Blinde von Sevilla

Titel: Der Blinde von Sevilla Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Wilson
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letzten zehn Jahren helfen.«
    »Nun, das umfasst immerhin die Zeit, in der er in der Öffentlichkeit stand … Expo ’92.«
    »Der Bauausschuss«, sagte sie.
    »Außerdem gibt es das interessante Phänomen der ›schwarzen‹ Peseten, die ›weiße‹ Euros werden wollen.«
    »Sie wissen sicher schon alles über die Gepflogenheiten in der Gastronomie.«
    »Kleine Steuerhinterziehungen interessieren mich nicht, Doña Consuelo. Das ist nicht meine Abteilung. Ich muss Dinge mit dramatischerem Potenzial betrachten. Dinge, bei denen es möglicherweise um sehr viel Vertrauen geht, das vielleicht enttäuscht wurde, um verlorene Vermögen, ruinierte Leben … machtvolle Motive für Vergeltung.«
    »Sind Sie deswegen bei der Mordkommission?«, fragte sie im Aufstehen.
    Er antwortete nicht, sondern führte sie zur Tür, während er verzweifelt versuchte, die gemorste Botschaft zu überhören, die ihre Absätze auf den Marmor klapperten: S-E-X.
    »Wer hat Sie mit meinem Vater bekannt gemacht?«, fragte er, ein reines Ablenkungsmanöver.
    »Raúl erhielt eine Einladung und hat mich geschickt. Ich habe früher mal in einer Galerie gearbeitet, also nahm er an, dass ich wusste, was ich tat.«
    »Haben Sie so auch Ramón Salgado kennen gelernt?«
    Sie stutzte kurz.
    »Seine Galerie hat die Einladungen verschickt. Und Ramón hat die Gäste auch an der Tür empfangen und vorgestellt.«
    »War es auch Ramón Salgado, der Sie auf Ihre erstaunliche Ähnlichkeit mit Gumersinda aufmerksam gemacht hat?«
    Sie blinzelte, als könnte sie sich nicht daran erinnern, diese Information preisgegeben zu haben. Falcón hielt die Tür zu dem kleinen, gepflasterten und von Orangenbäumen gesäumten Vorhof zur Calle Bailén auf.
    »Ja«, sagte sie. »Der Besuch heute Abend hier hat alles wieder wachgerufen. Ich habe geklingelt und gehört, wie er mit den Leuten redete, die er gerade hereingelassen hatte, sodass sein Kopf abgewandt war, als er die Tür öffnete. Als sich unsere Blicke trafen, sah ich, dass er vollkommen perplex war. Vielleicht hat er mich sogar Gumersinda genannt, aber vielleicht schmückt meine Fantasie den Moment in der Erinnerung auch nur aus. Bis wir mit Getränken versorgt waren, hatte er es mir schon erzählt, deshalb habe ich auch viel zu viel Whisky getrunken und wie eine Idiotin auf Ihren Vater eingeplappert, den ich schon ein halbes Leben lang unbedingt kennen lernen wollte.«
    »Das heißt, Ramón und Ihr Mann kannten sich schon aus der Zeit in Tanger?«
    Sie erinnerte sich nicht, dergleichen erwähnt zu haben. »Ich bin mir nicht sicher.«
    Sie gaben sich die Hand, und er sah ihren Beinen nach, als sie die Calle Bailén hinunterging. Dann schloss er die Tür und ging direkt nach oben ins Atelier.

Die Tagebücher
des Francisco Falcón
    20. März 1932, Dar Riffen, Marokko
    Oscar (Ich weiß nicht, ob das sein wirklicher Name ist, aber so nennt er sich hier) ist nicht nur mein Unteroffizier, sondern auch mein Lehrer. Im ›wirklichen Leben‹, wie er es nennt, war er ebenfalls Lehrer. Das ist alles, was ich über ihn weiß. Los brutos (meine Kameraden) sagen mir, dass Oscar hier ist, weil er sich an Kindern vergangen hat. Das wissen sie natürlich nicht mit Sicherheit, weil es zu den Regeln der Legion gehört, dass man seine Vergangenheit nicht offenbaren muss. Los brutos enthüllen mir ihre Vergangenheit dagegen mit dem größten Vergnügen. Die meisten sind Mörder, einige auch Vergewaltiger. Oscar sagt, dass sie aus Blut, Fleisch und Knochen mit ein paar primitiven verknüpfenden Fäden bestehen, die es ihnen erlauben, aufrecht zu gehen, sich mitzuteilen, ihren Stuhlgang zu verrichten und Menschen abzuschlachten. Los brutos betrachten Oscar hingegen mit Argwohn, weil ihnen das geringste Anzeichen von Intelligenz verdächtig ist und Angst macht. (Ich verstecke mich, wenn ich in dieses Buch schreibe, oder Oscar lässt mich sein Zimmer benutzen.) Aber sie respektieren ihn auch. Irgendwann hat Oscar jeden von ihnen schon einmal verprügelt.
    Oscar hat mich als Schüler und Schützling angenommen, als er mich in der Kaserne beim Malen erwischt hat. Er ließ mich von einigen brutos festhalten, riss mir das Blatt aus den Händen und blickte unvermittelt in ein Abbild seiner selbst in all seiner brutalen Intelligenz. Ich war wie gelähmt vor Angst. Er packte mich am Kragen und schleifte mich, angefeuert von los brutos , in sein Zimmer. Dort schleuderte er mich gegen eine Wand, sodass ich keuchend zusammenbrach. Er betrachtete die

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