Der blonde Vampir
ebenso. Das verändert meine Situation natürlich. Ich denke an Rileys Computer, den ich in seinem Büro zurückgelassen habe. Es wird nicht mehr lange dauern, bis die Polizei dort nachsieht, und vielleicht werden sie den Computer mitnehmen. Aber ich habe ihn absichtlich nicht mitgenommen, weil ich gar keine Möglichkeit hätte, Ray mein Verhalten zu erklären. Und wahrscheinlich würde er sich dann erst recht weigern, mir Zugang zu den gespeicherten Informationen zu verschaffen.
»Hallo, Pat«, sage ich brav. »Nett, dich kennenzulernen.«
»Ganz meinerseits«, erwidert sie. »Du hast ein wunderschönes Kleid an.«
»Danke.« Mir wäre es entschieden lieber gewesen, Ray und Pat nicht gleichzeitig kennenzulernen. Auf die Art und Weise hätte ich ihm gleich näherkommen können. Aber ich bin noch immer zuversichtlich, daß ich es schaffen werde, Ray für mich zu interessieren. Welcher Mann könnte dem widerstehen, was ich ihm zu bieten habe? Ich sehe wieder zu ihm hinüber. »Womit beschäftigt sich der Kurs gerade?« frage ich.
»Europäische Geschichte«, antwortet er. »Erst mal nur ein allgemeiner Überblick. Zur Zeit sind wir bei der Französischen Revolution. Hast du Ahnung davon?«
»Ich habe Marie Antoinette persönlich kennengelernt«, lüge ich. Ich habe damals von ihr gehört, aber ich bin ihr nie begegnet. Der französische Adel war todlangweilig. Aber ich war in der Menge der Zuschauer, die sehen wollten, wie Marie Antoinette geköpft wird. Ich mußte seufzen, als die Klinge ihren Kopf vom Körper trennte. Die Guillotine war eines der Exekutionswerkzeuge, die ich nicht mochte. Ich bin einige Male gehängt worden und insgesamt viermal gekreuzigt, aber ich habe es stets überstanden. Den Kopf zu verlieren hätte hingegen auch für mich das Ende bedeutet. Als die Französische Revolution anfing, war ich noch im Lande, aber als sie endete, hielt ich mich längst in Amerika auf.
»Hat sie wirklich gesagt: Gebt ihnen Kuchen zu essen?« fragt Ray. Offenbar hält er das Ganze für einen Witz.
»Ich glaube, das hat nicht sie gesagt, sondern ihre Tante.« Der Lehrer, Mr. Castor, betritt den Klassenraum. Er ist das traurige Beispiel eines modernen Erziehers. Er lächelt nur die hübschen Mädchen an, als er nach vorn zum Pult geht. Dabei wirkt er wie einer dieser Typen, die After-shave-Werbung machen. Ich nicke ihm zu. »Wie ist er?« will ich von Ray wissen.
Ray zuckt mit den Schultern. »Ganz okay.«
»Aber nicht gut?«
Ray mustert mich von oben bis unten. »Dich wird er wahrscheinlich mögen.« Ich verstehe, was er meint. »Ach, so ist das.«
Die Stunde beginnt. Mr. Castro stellt mich der Klasse vor und fordert mich auf, mich zu erheben und etwas über mich zu erzählen. Ich bleibe sitzen und sage ein paar Worte. Mr. Castro wirkt verärgert, läßt aber mein Verhalten durchgehen. Der Unterricht fängt an.
Geschichte – die Illusion, welche die Menschheit von ihrer eigenen Vergangenheit hat. Und trotzdem verteidigen die Wissenschaftler ihre Schriften, bis sie schwarz werden. Sogar ein Ereignis aus der nahen Vergangenheit wie der Zweite Weltkrieg wird in einer Weise dargestellt, die jedes Gefühl für die damalige Zeit vermissen läßt. Denn Gefühle und nicht Ereignisse sind es, die für mich das wahre Wesen der Geschichte ausmachen. Die meisten Menschen sehen den Zweiten Weltkrieg als den großen Kampf gegen ein unmögliches Regime, während er doch eigentlich nichts anderes war als eine endlose Zeit des Leidens. Wie schnell die Menschen vergessen. Aber ich vergesse nichts. Sogar ich, eine blutrünstige Hure, habe nie so etwas wie einen glorreichen Krieg erlebt.
Mr. Castro hat absolut kein Gefühl für die Vergangenheit. Eigentlich kennt er noch nicht mal genau die Fakten. Er doziert eine halbe Stunde, und ich langweile mich immer mehr. Der helle Sonnenschein macht mich ein bißchen schläfrig. Castro ertappt mich dabei, wie ich aus dem Fenster schaue.
»Miss Adams«, sagt er und reißt mich aus meinen Gedanken. »Könnten Sie uns sagen, was Ihnen zum französischen Adel einfällt?«
»Ich denke, er wahr sehr edel«, sage ich.
Mr. Castro runzelt die Stirn. »Sie halten es für richtig, daß er auf Kosten der Armen gelebt hat?«
Ich schaue zu Ray hinüber, bevor ich antworte. Ich glaube nicht, daß ihn die normalen Mädchen seines Alters wirklich beeindrucken, und so entscheide ich, mich nicht wie eines zu verhalten. Er beobachtet mich, der niedliche Kerl.
»Ich halte es weder für richtig noch für falsch«,
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