Der blonde Vampir
Ich sage es ihm, aber er tätschelt lächelnd mein Bein und schüttelt den Kopf. Er ist ein Gentleman. Ich werde ihn nicht umbringen.
Wenig später, während er mich auszieht, beiße ich unvermittelt zu. Er seufzt genießerisch und lehnt den Kopf in den Nacken; offenbar begreift er nicht wirklich, was ich da tue. Während ich trinke, bleibt er die ganze Zeit in dieser Haltung, verzückt von der ungewöhnlichen Empfindung. Für ihn ist es, als ob er innerlich sanft gestreichelt würde. Für mich ist es wie immer, süß und natürlich – so natürlich wie der Liebesakt. Aber zu letzterem kommt es nicht zwischen uns. Statt dessen beiße ich mir auf die Zunge und lasse einen Blutstropfen von mir auf seine Wunden fallen. Sie heilen unverzüglich, es bleibt keine Narbe zurück. Ich lasse mein Opfer sanft auf das Bett gleiten, damit er sich ausruht. Ich habe fast einen Liter getrunken. Er wird in einen tiefen Schlaf fallen und morgens vielleicht mit leichten Kopfschmerzen aufwachen.
»Vergiß«, flüstere ich in sein Ohr.
Er wird sich nicht an mich erinnern. Kaum einer tut das.
Am nächsten Morgen sitze ich in Mr. Castros Geschichtskurs. Mein cremefarbenes Kleid ist modern, aber geschmackvoll; der bestickte Saum endet ein paar Zentimeter über meinen Knien. Ich habe hübsche Beine und nichts dagegen, sie auch zu zeigen. Mein welliges blondes Haar umschmeichelt offen meine Schultern. Ich trage weder Make-up noch Schmuck. Ray Riley sitzt rechts von mir, und ich betrachte ihn interessiert. Der Unterricht fängt in drei Minuten an.
Sein Gesicht ist ausdrucksvoller als das seines Vaters. Er sieht aus wie viele moderne junge Leute. Er hat lockiges braunes Haar und ein Profil, das wie gemeißelt wirkt. Aber viel wichtiger als sein gutes Aussehen ist seine Ausstrahlung. Der Junge ist eigentlich kein Junge mehr, sondern ein Mann. Man sieht es an seinen braunen Augen, die sanft, aber wachsam blicken, erkennt es an seinem Schweigen, wenn er über das nachdenkt, was seine Klassenkameraden eben gesagt haben. Er denkt darüber nach, akzeptiert es oder lehnt es ab, egal, was die anderen denken. Ray Riley ist sein eigener Herr, und genau das ist es, was ich an ihm mag.
Er spricht mit einem Mädchen zu seiner Rechten. Ihr Name ist Pat, und sie ist ganz klar seine Freundin. Sie ist ein unscheinbares Ding, aber wenn sie Ray ansieht, erhellt ein wunderschönes Lächeln ihr Gesicht. Sie wirkt bestimmt, aber nicht aufdringlich – eben einfach lebendig. Ihre Hände sind immer in Bewegung, und oft berührt sie Ray leicht. Ich mag sie und frage mich, ob sie für mich ein Hindernis darstellen wird. Ich hoffe nicht – um ihretwillen. Es geht mir wirklich gegen den Strich, junge Leute zu töten.
Pat ist einfach gekleidet, sie trägt eine Bluse und Jeans. Wahrscheinlich ist ihre Familie nicht gerade reich. Ray hingegen ist toll angezogen. Prompt denke ich an die Million, die ich seinem Vater angeboten habe.
Ray wirkt in keiner Weise beunruhigt. Wahrscheinlich verschwindet sein Vater öfter mal für einige Zeit von der Bildfläche.
Ich räuspere mich, und er schaut zu mir herüber.
»Hallo«, sagt er. »Bist du neu hier?«
»Hi«, grüße ich zurück. »Ja, ich bin neu. Hab’ mich heute morgen eingeschrieben.« Ich strecke die Hand aus. »Mein Name ist Lara Adams.«
»Ray Riley.« Er schüttelt meine Hand. Seine Haut ist warm, sein Blut kräftig. Ich kann Blut durch die Haut der Menschen riechen und erkenne, ob sie irgendwie krank sind – sogar lange Jahre bevor die Krankheit ausbricht. Ray starrt mich weiterhin an, und ich klimpere mit den Wimpern. Hinter seinem Rücken hat Pat aufgehört, sich mit einem anderen Klassenkameraden zu unterhalten, und schaut jetzt herüber. »Woher kommst du?« fragt er.
»Colorado.«
»Wirklich? Du hast einen leichten Akzent.«
Seine Bemerkung erstaunt mich, denn ich beherrsche jede Menge Akzente. »Was für einen Akzent glaubst du herauszuhören?« frage ich, jetzt wirklich neugierig geworden.
»Ich weiß nicht genau. Englisch, Französisch – irgendeine Kombination von beidem.«
Ich habe sowohl sehr lange Zeit in England gelebt als auch in Frankreich. »In der letzten Zeit bin ich eine Menge gereist«, erkläre ich. »Vielleicht hört man das irgendwie heraus.«
»Muß wohl so sein.« Er wendet sich halb um. »Lara, das hier ist meine Freundin, Pat McQueen. Pat, das ist Lara Adams.«
Pat nickt mir zu. »Hi, Lara.« Sie wirkt kein bißchen eifersüchtig. Sie ist sich Rays Liebe sicher und ihrer eigenen
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