Der Blumenkrieg
und bei dem Anblick fragte er sich, was sie eigentlich den ganzen Tag über machte. Sie half in der Bücherei aus, aber nur einmal die Woche. Ihr tätiges Leben hatte sie zum größten Teil mit Kochen und Putzen für ihr Kind und ihren ziemlich konservativ eingestellten Mann verbracht. Was fing sie mit ihrer Zeit an? Ein leises Schuldgefühl wurde in ihm wach, daß er erst jetzt darüber nachdachte, wo er mit seinem eigenen Leben Schiffbruch erlitten hatte. Papa war schon eine ganze Weile tot. Hatte Theo, ihr einziger Sohn, sie jemals aufgesucht und gefragt, ob er ihr mit irgend etwas helfen könne? Hatte er versucht, sich für sie Zeit zu nehmen, mit ihr auszugehen, sie kennenzulernen? Gewiß, sie war nicht gerade der offenste Mensch der Welt, aber er hatte nicht viel unternommen, um das Eis zu schmelzen, nicht wahr?
Er ließ den Fernseher tonlos weiterlaufen, die Szenen von Autounfällen und Schulbezirksprotesten in den Vorabendnachrichten, und hängte den Mantel seiner Mutter in den Schrank. Er konnte ihr etwas zum Abendessen machen. Das wäre bestimmt eine nette Überraschung, wenn sie aufwachte. Er war kein großer Koch, aber er war nicht hoffnungslos, und selbst gegrillte Käsesandwiches und Tomatensuppe aus der Dose waren besser, als wenn sie aufstehen und selbst kochen mußte. Oder vielleicht sollte er sie richtig zum Essen ausführen. Wenn er dann John vom Restaurant aus anrief, konnten sie zu dritt zu dieser irischen Band gehen.
Er hatte schon die meisten der herausgefallenen Dinge in ihre Handtasche zurückgetan, als ihm auffiel, daß er ein Tablettenfläschchen in der Hand hielt und es schon eine Weile anstarrte, ohne so recht zu wissen, was ihn daran stutzig machte.
Fetanylcitrat stand auf dem Fläschchen. Auch ein orangefarbener Gefahrenhinweis klebte darauf.
Er mußte erst die vielen Gegenanzeigen auf dem Etikett durchlesen, bevor er begriff, daß er ein Morphinderivat in der Hand hielt – ein extrem starkes Schmerzmittel. Sein Inneres wurde eiskalt, als ob er selbst gerade betäubt würde. Er starrte noch eine Weile darauf, dann leerte er die Handtasche seiner Mutter wieder aus, obwohl er sich nicht richtig darüber im klaren war, was er da tat oder warum. Ein Lippenstift rollte über den Tisch und klackte auf den Boden, doch er bückte sich nicht, um ihn aufzuheben. Die Hochglanzbroschüre, so viele Male zusammengeknifft, daß die Falten ganz weiß waren, hatte oben auf der Vorderseite einen Balken, der sie als Veröffentlichung des California Pacific Medical Center auswies. In klarer, geradezu respektvoll wirkender Schrift stand darunter der Titel: Pankreaskrebs: Fragen und Antworten.
W arum hast du mir nichts gesagt?«
Sie warf ihm einen Blick zu, wie er ihn von Kris Rolle erwartet hätte, trotzig, fast wie ein Teenager. »Es steht noch nicht fest. Solange sie keine Biopsie gemacht haben, sind sie sich nicht hundertprozentig sicher, aber die Dings, die Endoskopie hat gezeigt, daß da ein großer Tumor sitzt.« Sie zuckte die Achseln. »Das war nicht schön, die Endoskopie. Ich wollte sie eigentlich nicht machen lassen – ich hatte gehofft, es wäre nichts.«
»Das ist schlimm, Mama. Wir müssen das ernst nehmen. Es ist ernst!«
Einen Moment lang schien ihre Miene sich aufzuhellen, doch hinter dem schiefen Lächeln gähnte ein Abgrund. »Ja, Theo. Ich weiß.«
»Entschuldige. Herrje. Tut mir leid.« Er holte tief und zitternd Atem. »Was haben sie dir gesagt?«
Was sie ihr gesagt hatten, klang nicht gut. Falls die Biopsie bestätige, daß der Tumor bösartig war, womit man höchstwahrscheinlich rechnen müsse, dann sei sie wohl in Stadium drei oder vier, meinte sie. Als er am nächsten Tag am Computer in der Bücherei im Netz recherchierte, fand er heraus, daß dies gemeinhin »Stadium III« und »Stadium IV« geschrieben wurde, als ob man sich die Häßlichkeit der Sache mit römischen Ziffern ein wenig vom Leib halten könnte, so daß sie weniger beängstigend wirkte, wie etwas aus ferner Vergangenheit. Anscheinend wuchere der Tumor schon ziemlich lange unbemerkt, habe der Arzt ihr erklärt, was bei Pankreaskrebs recht häufig sei, da man ihn meistens erst dann registriere, wenn er auf die anderen Organe drückte, und die Wahrscheinlichkeit sei hoch, daß er bereits auf ihr Lymphsystem übergegriffen hatte und entartete Zellen die Saat der Zersetzung im ganzen Körper ausstreuten.
»Sechs Monate«, sagte sie. »Ein Jahr, wenn die Strahlen- und Chemotherapie anschlägt.«
»Mein
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