Der Blutfluch: Roman (German Edition)
ebenfalls damit anfing, jagte ihr jedoch Angst ein. Jedes Kind der Sippe kannte die Bedeutung der Karte des Todes: Altes muss sterben, damit Neues geboren werden kann. Ein Abschied steht bevor.
»Schweig, Frau! Ehe wir weiterziehen, wird es verkündet. Sizma bekommt Tal, Aliza Milosh. Ich habe mit beiden Vätern gesprochen, wir sind uns einig. Die Kinder, die sie bekommen werden, werden die Sippe stärken.«
»Auch wenn du der Anführer unseres Stammes bist, Tibo, dies darfst du nicht bestimmen, ohne den Ältestenrat zu befragen. Du gefährdest unser aller Leben mit dieser Entscheidung.«
»Du gefährdest
dein
Leben mit diesem Ungehorsam, Weib!«
Aliza wusste nicht, was sie mehr erschreckte, sein Gebrüll, oder das, was er sagte. Eines wusste sie jedoch, nie und nimmer würde der Vater einlenken. Ein Aufschrei, Faustschläge und das Bersten von Holz bestätigten ihre Befürchtung.
Die Tür des Wagens wurde aufgerissen, wutentbrannt und wüst fluchend stürmte ihr Vater in die Nacht hinaus. Er sah weder sie noch die Gestalt, die sich hinter einen Weidenbusch am Mainufer duckte.
Sobald sie sicher sein konnte, dass er nicht sofort zurückkehren würde, betrat Aliza zögernd den Wagen. Die Mutter kauerte auf dem Boden, den Kopf gesenkt, die Hand auf den Magen gepresst. Auf dem Jochbogen unter ihrem rechten Auge rötete sich die Haut. Um sie herum lagen die Trümmer eines Hockers.
»Er hat dich geschlagen.« Betroffen sank Aliza neben ihr in die Knie und berührte sanft die unverletzte Wange. »Er hat kein Recht dazu.«
Leena zuckte zurück.
»Wo warst du? Woher kommst du?«
»Ich habe euren Streit gehört. Ich verstehe nicht, was das alles zu bedeuten hat. Sind Sizma und ich keine Schwestern? Wollt ihr uns zur Heirat zwingen? Ich will nicht heiraten, Mutter, weder Milosh noch einen anderen. Ich will keinen Mann, der mich behandelt wie Vater dich.«
»Still. Dazu wird es nicht kommen.«
»Was hat Großmutter in den Karten gesehen, Mutter? Du musst es mir sagen, bitte! Ich will niemanden ins Unglück stürzen.«
»Nichts.« Leena wich ihrem Blick aus.
»Du sagst nicht die Wahrheit.«
Aliza sammelte die Reste des Hockers auf. Einer der Männer würde ihn wieder zusammensetzen.
Sie hatte schon jede Hoffnung auf eine Antwort aufgegeben, als die Mutter sich ächzend erhob und doch noch zu sprechen begann.
»Ich schulde dir die Wahrheit, ich weiß es längst. Es fällt mir schwer, es dir zu sagen, aber du hast ein Recht darauf. Ich bin nicht deine leibliche Mutter. In deinen Adern fließt kein Tamarablut. Du bist die Tochter einer Burgunderin, die dich mit in den Tod nehmen wollte, kaum dass du das Licht der Welt erblickt hattest. Ich konnte nicht tatenlos danebenstehen und es geschehen lassen. Jahrelang hatte ich mich vergeblich nach einem Kind gesehnt, und sie wollte das ihre nicht haben. Ich habe dich gerettet, denn du warst die Erfüllung aller meiner Wünsche. Der erste Blick aus deinen Augen traf mich ins Herz.«
»Und Sizma?«
»Sie ist eine Tamara. Tibos Tochter, nicht meine. Er hat mich mit Danitza betrogen. Als sie starb, brachte er die Kleine zu mir, und ich fand, sie sollte ebenso wenig für die Fehler ihrer Eltern büßen wie du, Aliza.«
Und liebst du sie mehr als mich?, lag Aliza auf der Zunge, aber sie unterdrückte die Frage. Die Angst vor einem Ja hieß sie schweigen.
»Warum tragen Sizma und ich keine Zeichen wie die anderen Frauen alle?«, erkundigte sie sich stattdessen.
Schon immer hatte sie sich gewundert, weshalb man ihr den Schmuck der Stammeszeichen verweigerte, den jedes Mädchen erhielt, wenn es vom Kind zur Frau wurde. Und nur sie und Sizma trugen keine Ornamente auf den Wangen. Bisher hatte sie nie eine befriedigende Antwort auf diese Frage erhalten. Heute antwortete Leena bedrückt.
»Einmal in die Haut geätzt, bleiben die Symbole ein Leben lang erhalten. Ich habe nicht das Recht, dich auf diese Weise zu zeichnen. Großmutter hat uns jedoch geraten, auch Sizma nicht zu tätowieren. Es hätte nur Fragen und Anlass zu weiterer Eifersucht zwischen euch gegeben. Seit ihr zusammen seid, schwelt Rivalität zwischen euch.«
Aliza konnte es nicht leugnen. Immer war da eine Spannung zwischen ihr und Sizma. Stets neidete Sizma ihr etwas oder versuchte ihr den eigenen Willen aufzuzwingen. Zuneigung empfand sie eigentlich nur in Form einer unliebsamen Verantwortung für die Jüngere. Erleichtert stellte sie die nächste Frage.
»Was weißt du von meiner Mutter?«
»Nichts, Kind. Sie
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