Der blutige Baron - Lorenz - Der Buhmann
nur schwer zu erklären.
Dennis spürte die Angst, die ziehend und saugend in ihm aufstieg, aber das andere Gefühl, das wie ein eineiiger Zwilling dazugehörte – der Wunsch zu fliehen – stellte sich nicht ein. Er näherte sich dem Regal und griff nach den Kunstobjekten. Eine innere Stimme sagte ihm, dass die Schatten aufhören würden, wie ein Monster auszusehen, sobald er die Perspektive veränderte und einige der Objekte entfernte.
Die innere Stimme log.
Gemächlich bewegte sich das Wesen parallel zur Wand hinter dem Regal hervor, schob sich Richtung Tür. Dennis spürte die Enge des Raumes. Wohin das Ding auch ging, wohin er auch ging, es war zum Greifen nahe. Nein, er war zum Greifen nahe!
Jetzt stand er ihm Auge in Auge gegenüber. Er konnte jede Rippe des Wesens sehen. Im Brustkorb gab es eine Öffnung, ein ausgefranst wirkendes Loch schräg unterhalb der Herzhöhe. In dem dunklen Tunnel aus zerfetztem Gewebe glomm etwas auf, wenn das Licht einen Weg hinein fand. Stumpf silbern.
Das Wesen löste sich von der Wand, kam halb gehend, halb schwebend auf ihn zu. Es hatte keinen Geruch, machte keine Geräusche.
Die Panik, die sich bisher langsam aufgebaut hatte, explodierte plötzlich in Dennis. Er warf sich zurück. Der Weg durch die einzige Tür war versperrt. Das Ding – diese dunkle, mumienhafte Zombiekreatur – befand sich genau davor. Rechts und links die Regale, hinter ihm der Schrank. Er stieß mit der Hüfte gegen einen der Overhead-Projektoren, und dieser rollte einen halben Meter zur Seite, ehe er gegen das Regal stieß.
Jetzt erst fiel ihm auf, wie groß das Ungeheuer war. Es war schon größer als er gewesen, als es sich geduckt hatte. Nun richtete es sich auf, und der eingefallene Schädel hätte gegen die Decke stoßen müssen. In Wirklichkeit legte er sich auf die Wand, breitete sich aus, wechselte nur an dieser Stelle aus der dritten in die zweite Dimension.
Dennis stolperte rückwärts, ging zu Boden, rappelte sich wieder auf. Wollte nicht mehr zurückweichen. Wollte einen Versuch machen, einen einzigen wenigstens, an dem Wesen vorbei zu gelangen.
Doch vor ihm stand das grauenvollste, hässlichste Geschöpf, das er im Wachen und im Träumen je gesehen hatte. Wie von Sinnen schleuderte er sich selbst zurück, konnte gar nicht anders. Er stieß mit voller Wucht gegen den Schrank. Das Möbelstück erzitterte krachend unter seinem Aufprall.
Gleichzeitig gab es ein anderes Geräusch, nicht aus dem Schrank, sondern von weiter oben. Etwas Schweres auf dem Schrank verrutschte durch die Erschütterung. Das alte Tonbandgerät. Es war riesig. Der Aufprall schob es über den Rand des Schrankes hinaus. Das Gerät bekam das Übergewicht. Kippte. Fiel herab.
Und legte einen Meter im freien Fall zurück, ehe es den Kopf des Mannes traf, der sich voller Panik gegen den Schrank presste …
8
„Tot? Dennis tot?”
„Ja. Es tut mir leid.“
Heidelinde Reich hatte sich geweigert, Margarete am Telefon zu verraten, was vorgefallen war. Sie sagte, sie habe ihre Nummer in den Unterlagen ihres Kollegen im Lehrerzimmer gefunden. Die Lehrerin bat sie, sofort nach Baden Baden zu kommen. Und Margarete hatte auf der Fahrt dorthin genügend Zeit, um sich auf eine Nachricht dieser Art vorzubereiten. Sie redete sich ein, dass etwas mit Sandra passiert sein musste, doch der Umstand, dass nicht Dennis sie anrief, sondern seine Kollegin, sprach Bände …
Dennis, dessen Klasse sie erst vor wenigen Tagen besucht hatte, war bei einem Unfall ums Leben gekommen, wie Frau Reich ihr berichtete.
„Wie ist es passiert?“, wollte die Dozentin wissen. Die Frau mit den widerspenstigen Haaren und der roten Brille hatte vor dem Schulhaus auf sie gewartet, und nun standen sie in der Nähe des Eingangs. Es war früher Nachmittag, ein bewölkter, etwas windiger Tag. In der Nähe kickten ein paar Jungs mit einem schmutzigen Fußball. Heidelinde Reich war sichtlich bemüht, Ruhe auszustrahlen, doch ihre Blicke zuckten unsicher in alle Richtungen, und sie hatte mit den Zähnen ein Stück Haut von ihren schmalen Lippen abgerissen.
„Es gibt einen Raum, wo wir Dinge für den Unterricht lagern“, erwiderte sie stockend. „Dort ist es sehr … unaufgeräumt.“
Margarete nickte abwesend. Sie kannte so etwas von Falkengrund her. Traude Gunkel versuchte noch immer, Ordnung in die Abstellkammer hinter der Bibliothek zu bringen (was im Klartext bedeutete, dass sie seinen Inhalt unbesehen auf den Müll kippen wollte), doch die
Weitere Kostenlose Bücher