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Der blutige Baron - Lorenz - Der Buhmann

Der blutige Baron - Lorenz - Der Buhmann

Titel: Der blutige Baron - Lorenz - Der Buhmann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Clauß
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hinterlassen hatte. Das würde sie zwingen, das Ungeheuer als real anzusehen. Vielleicht konnten weitere Todesfälle vermieden werden.
    „Zerfetze mich, dass hier alles voller Blut ist“, flüsterte Sandra, und ihr wurde ein wenig übel von ihren eigenen Worten.
    Sie ging weiter, und ihr Gegenüber auch. Drei Meter. Wenn das Monster sich jetzt nach vorn kippen ließ, erreichte es sie bereits. Es war höchste Zeit zu handeln! Ihre Finger waren so verkrampft, dass sie sich im ersten Moment nicht öffnen ließen. Sie nahm ihre andere Hand zu Hilfe.
    Das Pentagramm des Agrippa lag auf ihrer Handfläche, die Oberseite mit dem Menschen in dem fünfzackigen Stern gut sichtbar.
    Das Wesen blieb stehen, und die Luft in seinem Inneren schien sich aufzublähen. Sandra entschloss sich, das Amulett zu werfen. Sie zielte auf die Brust und schleuderte den Silberklumpen mit einem leisen Schrei von sich.
    Und dann wusste sie nicht mehr, ob sie sich freuen oder vor Grauen davonrennen sollte.
    Das Amulett hätte von dem Bärenfell abprallen können. Das tat es nicht. Es hätte schon vorher in der Luft explodieren können, oder das Monster hätte sich mit einer seiner blitzartigen Bewegungen aus dem Gefahrenbereich bringen können. All das geschah nicht. Der Metallbrocken riss ein Loch in das Fell und bohrte sich weiter ins Innere. Das Innere! Dort tobte etwas, das Sandra zwar sah, aber niemandem hätte beschreiben können.
    Es war – vielleicht traf es das – ein materialisierter Schrei.
    Kein Laut ging durch den Flur (mit Ausnahme des Flatterns des Bärenfells). Doch dieser Wirbel im Inneren, dieses Sich-Übereinander-Schieben von Bildern, dieses Verzerren eines ohnehin schiefen, grotesken Körpers – es war so ein perfektes Gegenstück zu dem von Grauen und Schmerz entstellten Laut, der im Moment einer schrecklichen Verwundung aus der Kehle eines Menschen dringt, dass man das lautlose Geschehen nur einen Schrei nennen konnte.
    Das Fell fiel in sich zusammen wie ein Ballon, aus dem man die Luft herausgelassen hatte. Es lag nun eng an der dürren Gestalt an, die es übergezogen hatte, eine Art Figur aus Stöcken oder Ästen, oder ein übergroßes, schwarzes, menschliches Skelett. Sandra sah es nicht genau, aber der kurze Blick, den sie durch das vom Pentagramm gerissene Loch geworfen hatte, hatte ihr die wichtigsten Merkmale des Ungeheuers enthüllt. Es war dünn. Unmenschlich dünn. Und dunkel.
    Es wandte sich zur Flucht. Ein einziges Mal wischte eine der Tatzen in ihre Richtung, aber sie erreichte sie nicht, und es war nichts als eine hohle Drohung, wie das ganze Geschöpf gewissermaßen eine hohle Drohung war.
    „Geh weg!“, sagte Sandra, doch das tat es ohnehin schon. Es klappte zusammen, rutschte gebeugt und von Schmerzen geschwächt an ihr vorüber, das Bärenfell festhaltend, das es noch immer umhüllte. Das Mädchen hatte noch nie etwas so Lächerliches und Erbärmliches gesehen.
    Kaum schneller als ein kriechender Säugling krabbelte das Monster weiter, bis vor der Treppe ein zweiter Gang abzweigte. Diesen Gang nahm es. Hätte Sandra Lust verspürt, es zu verfolgen, wäre dies keine Schwierigkeit gewesen.
    Aber sie wollte nicht. Sie wollte dort stehen bleiben und warten, bis das Ding sich zum Sterben verkrochen hatte. Bis der Korridor nicht nur menschenleer, sondern auch monster leer war. Jetzt, wenige Sekunden nach dem schrecklichen Höhepunkt des Geschehens, war sie noch nicht fähig, darüber nachzudenken oder auch nur zu entscheiden, ob sie Erleichterung, Triumph oder irgendeine andere Emotion empfand.
    Eines fiel ihr jedoch auf, ehe sie die ein wenig zitternde Hand auf die Klinke der Klassenzimmertür legte: Sie hatte das Amulett nicht mehr, das sie Frau Maus zurückgeben musste. Später würde sie es suchen gehen. Nicht heute. Irgendwann. Vielleicht würde auch Frau Maus es für sie suchen, wenn sie ihr geschildert hatte, wie es ihr abhandengekommen war …

6
    Am Ende des Flurs gab es ein Zimmer für Lehrmittel. Ganze acht Quadratmeter, auf denen eine Unmenge Zeug untergebracht war. In einem Eisenregal lagerten hier schwere Wandkarten für den Geografie-Unterricht, in einem Schrank standen Videorekorder, CD-Player und Diaprojektoren. Die Mitte des Raumes, die eigentlich frei bleiben sollte, war mit zwei Tageslichtprojektoren verstellt, die irgendein Lehrer nicht in den Klassenzimmern dulden wollte. Obwohl der Chemie- und Biologiesaal ein eigenes Nebenzimmer hatte, das eigentlich ausreichen musste, hatten sich

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