Die Nomadengott-Saga 02 - Die Irrfahrer
Prolog
Brief des Schreibers Seshmosis an Elias in Jericho
Verehrter Elias!
Ich hoffe, Ihr seid wohlauf, und auch Eurer Tochter Rachel geht es gut. Meine Gedanken wandern oft zu Euch, und ich frage mich, ob die anderen Rückkehrer aus Ägypten immer noch um die Stadtmauern von Jericho streifen und ihre Shofarhörner blasen. Nach unserer Abreise aus Eurer schönen Stadt überfiel uns eine Horde von denen, doch unser gütiger Gott stand uns bei. Nachdem er ihren Anführer eingeäschert hatte, ließen die anderen schnell von uns ab.
Nun leben wir schon zwei Jahre in Byblos – wir, die wir von Theben auszogen, um eine neue Heimat zu finden. Ich weiß nicht, ob wir das, was wir suchten, wirklich gefunden haben. Dazu müsste mir erst klar sein, was Heimat eigentlich ist. Wenn es nur darum geht, einen Ort zu finden, an dem wir in Frieden leben können, dann ist Byblos sicher unsere Heimat. Wenn es aber ein Platz sein soll, an dem mir warm ums Herz wird und wo jemand für mich da ist, bin ich immer noch auf der Suche.
Die meiste Zeit seit unserer Ankunft in dieser Küstenstadt habe ich damit verbracht, die Geschehnisse unseres Auszugs aus Ägypten niederzuschreiben. Doch diese Arbeit ist nun vollendet, und es gibt für mich nicht viel, das die Monotonie meiner Tage unterbricht.
Wie oft denke ich zurück an die schönen Stunden bei Euch und Eurer liebreizenden Tochter, deren Lächeln mich auch hier in der Ferne noch verzaubert. Doch ich schweife ab, bitte verzeiht! Wollte ich Euch doch berichten, wie es uns auf unserer Reise ergangen ist, da ich bei unserer Begegnung in Jericho nicht die Gelegenheit dazu fand.
Wie Ihr wisst, verließen wir Theben nicht ganz freiwillig. Um der Wahrheit Genüge zu tun, es waren eigentlich alle hinter uns her: der Statthalter des Pharao, die Palastwache, die Stadtwache, die Tempelwache und ungefähr die Hälfte der zahlreichen ägyptischen Götter.
Dabei haben wir im Prinzip nichts anderes getan als sonst und einfach unser Leben gelebt. Die einen mehr, die anderen weniger. Gut, ich muss zugeben, Raffim ging nicht gerade sanft mit den heiligen Krokodilen des Gottes Suchos um. Aber wie anders sollte er sie zum Weinen bringen, um die Krokodilstränen zu gewinnen? Als Glücksbringer in Gold oder Silber gefasst, waren sie schließlich seine Haupteinnahmequelle. Auch Barsils Geschäfte waren wohl nicht nach jedermanns Geschmack. Vor allem dann nicht, wenn den Leuten ihre eigene Inneneinrichtung auf dem Basar zum Kauf angeboten wurde. Sicher kam es auch vor, dass manch feuriger Stier, den unser guter Melmak veräußerte, sich als müder Ochse erwies, aber im Großen und Ganzen waren wir Hyksos in Ägypten wirklich in das dortige Leben eingebunden.
Allerdings erschien es mir angebracht, unseren Namen zu ändern, nachdem Raffim das Erdbeben, bei dem halb Theben zerstört wurde, mit verursacht hatte. Aus Versehen hatte er nämlich dem Krokodilgott sein göttliches Ankh entrissen und so das Unglück ausgelöst.
Mit unserem neuen Namen Tajarim, der Touristen bedeutet, fahren wir auch hier in Byblos gut. Touristen sind überall gern gesehen, und keiner empfindet sie als Bedrohung.
Eigentlich wollte ich damals ja auf dem kürzesten Weg über das Rote Meer nach Kanaan gelangen, doch meine Gefährten überstimmten mich und forderten, die Pyramiden zu besichtigen, wo wir doch schon Touristen sind. Also entschieden wir uns für die lange, gefahrvolle Route den Nil entlang, mitten durch ein feindlich gesinntes Land. Es war ein Graus für mich! Ihr kennt die Seele eines Schreibers und versteht sicher meine Qualen. Aus der Beschaulichkeit meiner Schreibstube gerissen, sah ich mich unvermittelt als Anführer von zweihundert Flüchtlingen samt Vieh und Habe. Ich will hier nicht die Einzelheiten ausbreiten, verehrter Elias, dafür sende ich Euch meinen umfangreichen Bericht, sobald die Abschrift fertig ist. Oder ich bringe ihn persönlich zu Rachel. Doch lasst mich hier die wichtigsten Punkte herausgreifen, um Euch einen Eindruck zu geben.
Unter merkwürdigen Umständen erreichte unsere Karawane damals Abydos, besser gesagt die Nähe von Umm el-Qaab, wo die Gräber derer liegen, die vor den Pharaonen über das Land geherrscht hatten. Hier passierte etwas Ungeheuerliches: Mir erschien ein Gott.
Es ist sonst nicht meine Art, Dinge zu sehen, die andere nicht wahrnehmen, und dann auch noch mit diesen zu reden, doch die Erscheinung war sehr überzeugend – und Furcht einflößend zugleich.
Bis heute
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