Der Blutkelch
Wahrheit verkündet, noch, dass er Lügen verbreitet, und schon gar nicht, dass ich seiner Ansicht bin«, fuhr Fidelma unbeirrt fort. »Celsus hat das so und nicht anders niedergeschrieben. Weiterhin erwähnt er, dass die Eltern Marias, die auch zufolge vieler anderer Quellen in dem Ort Sepphoris in der Nähe der Stadt Nazareth lebten, die Tochter wegen der Schande, die sie über die Familie gebracht hatte, verstießen. Schließlich hätte sich Joseph, ein Zimmermann, ihrer und ihres Sohnes angenommen.
In Sidon fand Bruder Donnchad zudem Quellen, die von einem dort ansässigen Mann namens Abdes Pantera berichteten. Der war schon einige Jahre vor der Geburt Jesu als Bogenschütze ins Heer der Römer eingetreten. Als ihm das Bürgerrecht Roms verliehen wurde, nahm er den Namen Tiberius Julius Abdes Pantera an. Ferner heißt es da, dass seine Legion an der Zerstörung von Sepphoris beteiligt war, die der Statthalter Quinctilius Varus befohlen hatte.«
»Das ist einfach lächerlich«, schrie Bruder Lugna mit gesteigerter Wut. »Eine Ungeheuerlichkeit gegen den Glauben ist das. Müssen wir hier sitzen und uns anhören, wie unser Glaube verhöhnt wird?«
»Noch einmal sage ich, dass ich diese Dinge nicht als Tatsachen vortrage«, setzte Fidelma ihre Rede verbissen fort. »Ich stelle dar, was Bruder Donnchad während seiner Nachforschungen herausfand, was er als Tatsache begriff und worauf sich seine Erkenntnisse gründeten.«
»Ich habe bereits verkündet, dass ich dergleichen Ausführungen hier dulde, weil sie der Beweisführung der Anwältin dienen«, ergriff Brehon Aillín das Wort. »Ich bin bereit, sie weiter anzuhören, sofern es zur Enthüllung des Mörders führt.«
»Bruder Donnchad stellte fest, dass der Name Abdes in der in Sidon gesprochenen Sprache so viel wie ›Diener der Isis‹, einer Göttin der Ägypter, bedeutet«, hörte man wieder Fidelma. »Abdes wurde in die Erste Kohorte der Bogenschützen aufgenommen und dort zum Bannerträger, zum
signifer
, befördert. Er gehörte vierzig Jahre dem römischen Heer an. Bruder Donnchad fand sogar heraus, dass die Truppe, die
Cohors Prima Sagittariorum
, in Judäa stationiert blieb, bis Jesus neun Jahre alt war. Dann wurde die Kohorte an die Nordgrenze von Germania Superior verlegt, an den Fluss Renos. Der Legionär Abdes diente in einem Kastell, das Bingium genannt wurde. Dort starb er im Alter von zweiundsechzig Jahren, und dort wurde er beerdigt.«
»Und all das hat Bruder Donnchad tatsächlich schriftlich festgehalten?«, wollte Abt Ségdae dringlich wissen und wandte sich dann an den Richter: »Verzeih, Brehon Aillín, die Sache ist mir so wichtig, dass ich mir völlige Klarheit darüber verschaffen muss.«
»Ja, Punkt für Punkt«, bestätigte ihm Fidelma. »Das Schriftstück kann dir als Beweismaterial vorgelegt werden. Bislang waren mir diese Orte und deren Bewandtnis gänzlich unbekannt. Ich weiß lediglich, dass Bruder Donnchad die genannten Einzelheiten aufgezeichnet hat und dass sie ihm ungemein zu schaffen gemacht haben. Bei der Heimreise landete er in Tarentum, wo er sich von seinem Blutsbruder Cathal verabschiedete und dann die Wanderschaft nach Norden fortsetzte. Er überquerte die riesigen Berge, die auf seinem Wege lagen, und gelangte schließlich nach Bingium am Renos. Dort fand er, wie er schrieb, einen Fremdenführer, der ihn zum Grab des Abdes Pantera geleitete. Auf dem Grabstein war die lateinische Inschrift noch deutlich lesbar, und Wort für Wort hat er sie abgeschrieben.«
»Doch all das beweist nicht, wie er zu Tode kam«, gab der Richter zu bedenken. »Möchtest du jetzt erklären, wie der Mord geschah?«
»Es sollte erhärten, in welcher Geistesverfassung sich Bruder Donnchad befand … und zugleich wirft es ein Licht auf das Motiv für seinen Mord. Wie bereits mehrfach gesagt, kann ich mich nicht dafür verbürgen, dass die Einzelheiten so oder so stimmen. Doch Bruder Donnchad war bis ins Innerste seines Wesens von den Geschichten betroffen, wie sie unter den Leuten in Judäa im Schwange waren, solchen wie der Vergewaltigung bei Nazareth, der Erwähnung des allseits bekannten Mannes in einem jüdischen Gesetzestext, den Erzählungen von dem Phönizier in Sidon, bis hin zu griechischen und lateinischen Schriftstellern wie Celsus. Die von Celsus berichtete Geschichte wurde sogar von Origenes widerlegt, der dessen Darstellung für so wesentlich fand, dass er sich ernsthaft mit ihr auseinandersetzte. Bruder Donnchad selbst war
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