Der blutrote Kolibri
Feiertag des Jahres. Vielleicht träumte er davon, wie seine eigene Tochter dem Inka als Geschenk übergeben wurde. Oder er träumte bei dem Anblick der Mädchen in dünnen Kleidern von etwas ganz anderem â¦
Animaya seufzte. Alle waren so wunderschön. Es würde schwer, ja beinahe unmöglich werden, aus ihnen herauszustechen. Die Konkurrenz war diesmal besonders groÃ. Neunundsiebzig Jungfrauen waren den Generälen gemeldet worden. Neunundsiebzig! Das war rekordverdächtig. So viel hatte es seit Jahrzehnten nicht gegeben, behaupteten die Alten. Neunundsiebzig Erhebungen an den Knotenschnüren, mit denen die Beamten in Paititi alles zählten und registrierten, hatte noch keiner gesehen. Und nur sieben der Mädchen kamen in die Vorauswahl.
War es wirklich so schlimm, nicht zu den Schönsten zu gehören? Mit harter Arbeit konnte man dem Inka ebenso dienen. In Gedanken versunken wollte Animaya an den anderen vorbei zu einer freien Baderin schleichen, als sie plötzlich von einer eiskalten Wasserfontäne getroffen wurde. Animaya stöhnte leise auf und sah an sich herunter. Das Kleid klebte ihr jetzt am Körper und gab die Umrisse ihrer Brüste und Ober schenkel preis â weit mehr, als ihr lieb war. Sie spürte einen Blick auf sich ruhen, den Blick eines Mannes. Hastig kreuzte sie die Arme vor der Brust und ging gesenkten Hauptes weiter.
Ein vielstimmiges Kichern lieà sie wieder aufschauen. Pillpa hockte auf dem Rand des Bassins, das Ende des Wasserspeiers zwischen die Beine geklemmt. Ein Dutzend Mädchen hielt sich verschämt die Hände vor den Mund, kicherte aber leise weiter.
Animaya konnte nicht anders, sie lachte mit. Na warte!, dachte sie im Stillen. Gleich bist du dran!
Jetzt lenkte Pillpa mit der Hand erneut das Wasser um, das Rohr spuckte quer durch den Dschungel. Bevor der Strahl Ani maya treffen konnte, sprang sie zur Seite und stürmte auf ihre Freundin zu. Pillpa ahnte, was sie im Sinn hatte, rappelte sich auf und versuchte, hinter einem groÃen Baum in Deckung zu gehen. Doch ein Ring aus Mädchenleibern, angefeuert von Nawi, Animayas zweitbester Freundin, versperrte Pillpa lachend den Weg. Animaya erwischte sie an der Hüfte und umklammerte sie eisern.
»Du magst also Wasserspiele«, flüsterte sie mit vorgetäusch ter Wut. »Ich auch! Und ich bin eindeutig im Vorteil: Nasser kann ich nicht mehr werden!«
Animaya kämpfte sich an Pillpas Körper bis zum Hals hoch, um ihr den Kopf unter den Wasserstrahl zu halten. Pillpa durchschaute den Plan und setzte sich widerspenstig zur Wehr. Immer wieder gelang es ihr, einen Arm oder eine Hand freizukriegen. Als Animaya ihr Bein um Pillpas Unterschenkel wickelte, verloren beide Mädchen das Gleichgewicht. Eng umschlungen platschten sie aus zwei Mannshöhen in die Lagune.
»Danke!«, wisperte Pillpa, als sie wieder Luft bekam. »Jetzt bin ich endlich sauber genug für den Inka.«
Triefend stieg sie aus dem Bassin und half dann Animaya aufzustehen. Als Pillpa wieder loslassen wollte, zog Animaya sie an sich und umarmte sie kräftig. Diesmal nur, um Pillpa zu zeigen, wie gern sie sie mochte. AnschlieÃend sahen sie sich tief in die Augen.
»So darfst du dich aber nicht wehren, wenn sich Tupac zu dir legt!«, sagte Animaya mit gespielter Strenge.
Pillpas Pupillen weiteten sich, dann lachte sie los. »He, für solche Sprüche bin ja wohl eher ich zuständig!«
Während die anderen Mädchen sich von den Baderinnen reinigen lieÃen, hielt Animaya immer noch Pillpas Hand fest.
Pillpa schwieg. Animaya hatte das Gefühl, dass ihre beste Freundin gerade das Gleiche dachte wie sie, als wären sie durch unsichtbare Fäden miteinander verbunden. Fäden, gewoben aus gemeinsamen Erlebnissen und Gefühlen, guten und sehr schlimmen.
Pillpa war es gewesen, die nächtelang an ihrer Pritsche gehockt hatte, als Animayas Vater eines Abends nicht aus dem Wald zurückgekehrt war. Und nun dieser Gedanke: Was, wenn eine von uns erwählt wird und die andere nicht? Den Bund mit dem Inka konnten die Menschen nicht auflösen â er galt bis zum Tod.
Tatsächlich hatten Animaya und Pillpa schon als Kleinkinder nebeneinander im Haus der Gesetze gehockt und den Lehrern mit groÃen Ohren gelauscht. Jedes geflüsterte Wort immer und immer wieder vorgebetet bekommen. Damals war das Saatkorn in ihren Geist gelegt worden, das nun zu
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