Der blutrote Kolibri
weg!«, fauchte eine der Baderinnen leise. »Mach, dass sie aufhört!« Sie stieà den Warnschrei aus, den Ruf des Kakadus: »Ruck-ruck-ruuuuck!«
Angst legte sich wie eine Fessel um Animayas Herz. Doch nicht vor Imelda selbst, sondern vor dem, was sie in ihren Augen sah: Liebe, die für immer verloren war.
Vom Ruf der Baderin alarmiert, riss der General die Frau von Animaya los und gab ihr eine Ohrfeige. Imelda kippte seitwärts in die Lagune, tauchte aber sofort wieder auf. Eine dringende Warnung ging von ihrem Blick aus. Aber wovor? Animaya hatte nicht den Hauch einer Idee. Der General hievte Imelda aus dem Wasser und lieà sie von zwei Kriegern zur Stadt bringen.
»Krokodilreiter küssen scheinbar so gut, dass die Frauen nicht nur ihr Herz, sondern gleich noch den Verstand verlieren«, feixte Pillpa.
»Kannst du nicht ein Mal ernst sein?«, erwiderte Animaya ungewohnt heftig.
Pillpa zog sich schmollend ins Wasser zurück, doch das war Animaya im Moment egal. Ihr war einfach alles zu viel: das Pfeifen des Kolibris, die gefangene Albina, Imeldas Warnung. Ihr schwindelte der Kopf und sie wollte nur noch allein sein.
»Entschuldige mich bitte«, wisperte sie ihrer Baderin zu, bevor sie zwischen den Bäumen verschwand. Sollten alle ruhig denken, dass sie sich im Wald erleichtern wollte.
Schon bald war von dem Trubel an der Lagune nichts mehr zu sehen und zu hören. Wie man es ihnen beigebracht hatte, suchte Animaya das Dach des Waldes nach Spuren von Spinnenmenschen ab. So nah an der Stadt würden sie es wahrscheinlich nicht wagen, ein Mädchen anzugreifen, aber man wusste ja nie. Erst als sie weder geknüpfte Netze noch klebrige Kletterseile ausmachen konnte, setzte sie sich auf einen flachen Stein und stützte den Kopf in die Hände.
Was war bloà heute los? In den letzten Stunden hatte sie mehr seltsame Dinge erlebt, als in ihrem ganzen bisherigen Leben. Und sosehr sie sich auch das Hirn zermarterte, ergab für sie alles keinen Sinn. Was hatte Imelda ihr mit den abgehackten Grunzlauten sagen wollen? War es eine Aufforderung gewesen? Eine Bitte? Ein Hilfeschrei? Oder war die Frau wie Vinoc geistig verwirrt? Wurde man zwangsläufig so, wenn man in die Fänge böser Kreaturen geriet? Wie Vinoc den Spin nenmenschen und Imelda den Krokodilreitern? Fragen über Fragen, auf die Animaya keine einzige Antwort fand.
Ihr Vater hätte sie bestimmt gewusst. Wieder einmal spürte sie einen Stich in der Brust, so sehr vermisste sie ihn. Sie rief sich tröstende Bilder aus der Vergangenheit ins Gedächtnis. Wie er sich mit ihr im Kreis drehte, sie abends in den Schlaf wiegte.
Animayas Lippen öffneten sich wie von selbst und sie begann leise zu singen. Es war das Gutenachtlied, das Tinku Chaki ihr immer vorgesungen hatte. Wort für Wort kam ihr der Text wieder in den Sinn, den sie längst vergessen geglaubt hatte.
»Schlaf, mein Kind, schlaf ein.
Einmal werden wir frei sein.
Tun, wonach uns der Sinn steht,
wenn der Inka ins kalte Bett geht.
Schlaf, mein Kind, schlaf ein.
Einmal werden wir glücklich sein.«
»Wann?«, hatte Animaya jedes Mal gefragt. Es war ihr Ritual, eines von vielen.
»Jetzt«, hatte ihr Vater geantwortet und ihr einen Kuss auf die Nase gedrückt.
Erst heute fiel Animaya auf, was die Sätze bedeuteten. Sie waren ketzerisch, hochgefährlich. Ins kalte Bett ⦠Damit konnte doch wohl nur das Grab gemeint sein? Verwirrt stand Animaya auf. Das Lied passte gar nicht zu dem Bild, das sie von ihrem Vater hatte. Stets fleiÃig, ehrlich, ein guter Gefolgsmann des Inka, treu bis in den frühen Tod. Und doch hatte er es gesungen, Abend für Abend.
Viel zu spät hörte Animaya das raschelnde Laub hinter sich. Jemand oder etwas durchquerte das Unterholz. Ihr Körper war sofort in Alarmbereitschaft. Entschlossen brach sie einen dicken Ast vom Baum. Sie würde nicht zögern, im Notfall mit aller Kraft zuzuschlagen. Die Schritte hielten nicht inne. Animaya umklammerte die Waffe. Nur einen Wimpern schlag lang erwog sie, zur Lagune zurückzulaufen. Doch dann hätte sie eine leichte Beute abgegeben, schlieÃlich waren die Feinde bekannt dafür, ihre Opfer hinterrücks zu erledigen. Oder war es bloà ihre Freundin, die nach ihr sehen kam?
»Bist du das, Pillpa?«, zischte Animaya viel zu laut. Sie biss sich auf die Unterlippe. Auch in Gefahr ging das Wohl des Volkes vor. Das Rascheln
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