Der blutrote Kolibri
Tag für uns! Der Höhepunkt des Jahres! Das Haremsfest!«
Die Menschen warfen die Arme in die Luft und jubelten lautlos. Animaya jubelte mit. Was immer sich im Dämmerlicht zugetragen hatte, war Vergangenheit. Ihre Aufgabe im Volk war eine andere. Morgen war ihr groÃer Tag, der Tag, an dem sie erwachsen wurde. Der Pfiff des Kolibris hallte ihr wieder durch den Kopf und sie versprach sich im Stillen, ihr Bestes zu geben, um in den Harem gewählt zu werden.
»Tupac, der gottgleiche Inka, fordert wie in jedem Jahr einen ganz besonderen Dank von seinen Untertanen: Den hübschesten Töchtern Paititis wird die Ehre zuteil, als Nebenfrauen in seinen Harem geführt zu werden. Dort werden sie Tupac mit ihren Körpern dienen, wie es die heilige Pflicht der Schönsten ist.«
Animaya spürte, wie ihr das Blut ins Gesicht schoss. Pillpa hatte ihr vor einiger Zeit kichernd erklärt, was mit ihren Körpern dienen bedeutete. »Ich will ja nicht, dass du einen Schreck bekommst, wenn Tupac sein Gewand fallen lässt â¦Â«, hatte sie Animaya zugeraunt.
Mit der Hauptfrau zeugte der Inka seinen Nachfolger, mit den Konkubinen die Adeligen, die zukünftigen Generäle. So konnte der Inka sicher sein, dass ihm die oberste Kaste treu ergeben war.
Animaya sah zu ihrer besten Freundin, schräg links in der zweiten Reihe. Auch Pillpas Wangen glühten vor Aufregung, was sie noch ein bisschen hübscher machte. Das Warten würde bald ein Ende haben!
Animaya wusste aus den vergangenen Jahren, wie die Prozedur ablaufen würde. Tupacs Generäle stellten ihm aus der Menge der heiratsfähigen Mädchen eine Auswahl zusammen: sieben Jungfrauen, so viele, wie der Regenbogen Farben hat. Die fünf von ihnen, die Tupac am besten gefielen, lebten fortan als seine Konkubinen im hinteren Teil des Palastes. Zu ihrem eigenen Schutz weggesperrt vor den lüsternen Blicken der übrigen Männer.
Dort wurden sie den lieben langen Tag mit Sahne aus Lamaguamilch und süÃem Brei von violetten Kartoffeln gefüttert, mit Nüssen und gedörrten Früchten. So erzählten es jedenfalls die Lehrer, denn es war noch nie eine Frau aus dem Palast zurückgekehrt.
Die beiden Mädchen, die der Inka ablehnte, kamen als Priesterinnen zu Kapnu Singa in den Tempel. Wer aber von den Generälen auf dem Platz der Freude zurückgelassen wurde, hatte ein hartes Leben voller Arbeit, Pflichten und Entbehrungen vor sich. Ein normales Leben eben, wie die meisten anderen Einwohner auch â ein Leben für das Volk.
Animaya rechnete sich keine groÃen Chancen aus. Dafür waren andere einfach zu hübsch, die Konkurrenz zu groÃ. Aber sie wollte es wenigstens versuchen!
Kapnu Singa lieà wie immer am Tag vor dem Haremsfest die glorreiche Geschichte Paititis in flammenden Worten vor ihren Augen lebendig werden. Animaya hörte nicht richtig hin, sie kannte alles in- und auswendig wie jeder hier.
Jahrhundertelang war ihr Volk stolz, aber arm gewesen. Auf steinigen Ãckern hatten sie Mais und Kartoffeln und Tomaten angebaut. Viele Menschen verhungerten. Dann kam mit Huáscar ein besonderer Mann auf den Thron, er fällte eine Entscheidung. Das gesamte Volk wurde von den Klingenschleifern mit scharfen Schwertern ausgerüstet. Damit wanderten sie zu den Rändern des Waldes und begannen, sich einen Weg durch das Gestrüpp zu schlagen. Der Hungerfeldzug begann.
Auf der Suche nach fruchtbarem Lebensraum für sein Volk durchquerte Huáscar den Wald. An der schönsten Stelle erbauten seine Untertanen mit viel Schweià Paititi, die prachtvollste Stadt der Welt. Doch die anderen Rassen des Waldes waren voller Neid und belagerten die Stadt, um Huáscars Volk auszuhungern. So wurden die friedliebenden Vorfahren gezwungen, ihre Macheten als Waffen einzusetzen und zu kämpfen.
In den Drei Spinnenkriegen wurde um jeden FuÃbreit des Urwalds gefochten. Unter Huáscars Führung wurde ein Sieg nach dem anderen gefeiert. SchlieÃlich legte er die Grenzen fest, die bis auf den heutigen Tag galten. Ein weiter Kreis um Paititi herum gehörte ihnen. Dazu die Felder im Norden, wo die Umsiedler den Mais anbauten. Der Knochenfluss war das Territorium der Krokodilreiter. Diese hasste Animaya am meis ten, feige und brutal hatten sie ihren Vater hinterrücks abgeschlachtet.
In den Wäldern auf der anderen Seite des Flusses hausten die primitiven Spinnenmenschen. Eine
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