Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der blutrote Kolibri

Der blutrote Kolibri

Titel: Der blutrote Kolibri Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thilo P. Lassak
Vom Netzwerk:
zweites Gesicht. Es war runzlig, ihr fremd. Doch sie erkannte die weiße Strähne wieder, die ihm in die Stirn hing. Es war der zweite Reiter jenes verhängnisvollen Morgens, an dem Kapnu Singa die Albina in die Stadt geschleift hatte!
    Der Mann fixierte Animayas angstvoll aufgerissene Augen im Spiegelbild. Sie meinte, in seinem Blick etwas aufblitzen zu sehen.
    Es ist aus!, durchzuckte es sie mit plötzlicher Gewissheit. Eine lähmende Kälte machte sich in ihr breit. Er sieht dich und wird dich hart bestrafen! Tupac ließ bei jedem Morgenappell verkünden, dass in seiner Stadt jedermann in Sicherheit schlafen könne. Denn es bleibe niemand unbemerkt, der im Dunkeln durch die Straßen schleiche. Auch diese Nacht würde kein Herumstreunender überleben.
    Doch dann geschah etwas Unerwartetes: Kurz bevor Kapnu Singa neben ihm am Ufer erschien, kickte der alte General einen großen Stein ins Wasser. Animayas Spiegelbild verschwand in den zarten Wellen.
    Â»Euer Plan war gut, großer Kapnu Singa«, lobte er den Ober befehlshaber leise. »Mit der Zerstörung der Stadt wäre der Pro phezeiung Genüge getan und wir könnten weiterleben …«
    Kapnu Singa schnaubte. »Diese verfluchte Karawane! Wäre sie nur pünktlich gewesen, hätten wir längst an anderer Stelle mit dem Bau der neuen Stadt begonnen …«
    Der Alte schien zu nicken, denn Animaya hörte ihn nur fragen: »Wie weit seid Ihr mit der widerspenstigen Hexe? Hat sie etwas verraten?«
    Verächtlich presste Kapnu Singa die Luft aus den Nasenlöchern. »Zerbrich dir nicht für Tupac den Kopf, diesen guten Rat gebe ich dir, Milac. Schweige über das, was deine Augen gesehen haben, oder ich reiße sie dir eigenhändig raus und werfe sie Anaq als Delikatesse vor!«
    Als der Kondor seinen Namen hörte, kreischte er so markerschütternd, dass Animayas Blut gefror.
    Â»Kann es sein, dass Ihr nicht zufällig in dieser Nacht meine Route kreuzt, Kapnu Singa?«, gab der Mann forsch zur Antwort. »Wolltet Ihr mir das mitteilen? Dass ich auf der Hut sein soll?«
    Der oberste General lachte. Dann schlug er dem Wachmann mit der flachen Hand ins Gesicht.
    Â»Stopp deine vorlauten Reden! Der Inka weiß so gut wie ich, dass du ein treuer General bist. Tupac hat Pläne mit dir beim Neuanfang. Setz diese Position nicht aufs Spiel, indem du zu viel nachdenkst!«
    Eine Abfolge dumpfer Schläge folgte. Zuerst dachte Animaya, Kapnu Singa würde Milac weiter ohrfeigen. Aber er klopfte dem Alten wohl nur anbiedernd auf die Schulter.
    Â»Die Wachen haben im Knochenfluss einen Krokodilreiter gesichtet, das ist der Grund, warum ich dich aufsuche. Eine gute Nacht, um den Grünen wieder einmal klarzumachen, wo ihr Territorium endet! Was meinst du?«
    Â»Ich muss meine Runde noch zu Ende drehen«, grummelte Milac. »Im Armenviertel …«
    Â»Schon erledigt.« Kapnu Singa schwang jetzt zum Befehlston der Militärs um, der keinen Widerspruch zuließ. »Alles ruhig dort. Komm!«
    Â»Jawohl …«, flüsterte Milac. »Hier stinkt es mir zu sehr!«
    Wie Recht du doch hast!, dachte Animaya bitter. Es stinkt nach Unterdrückung und dreckigen Lügen. Den Odem deines Anführers können auch die fauligsten Abwässer nicht überdecken.
    Ohne es zu wollen, betete sie für den jungen Krokodilreiter, denn sie war sicher, dass er es war, den die Wachen gesichtet hatten. Sternauge hatte er sie genannt. Sie hasste ihn mit jeder Faser ihres Körpers für das, was sein Volk ihrem Vater angetan hatte. Aber Kapnu Singa hasste sie noch mehr. In Gedanken schickte sie eine Warnung Richtung Fluss, damit die beiden Generäle dort nichts aufspürten.
    Im selben Moment tauchte Achachi unter der Brücke auf und sirrte hektisch vor ihr auf und ab.
    Â»Ich dachte, die erwischen mich!«, flüsterte Animaya ihm erleichtert zu. »Wolltest du, dass ich das höre?« Das Gespräch, das nicht für ihre Ohren gedacht gewesen war, hallte noch durch ihren Kopf. Die Albina war also verhört worden. Aber wozu? Die Zerstörung der Stadt. Ein Neuanfang. Welche Prophezeiung hatten die beiden gemeint?
    Plötzlich stutzte sie. Wenn Milac ihr Bild im Fluss gesehen hatte, musste er gewollt haben, dass sie Zeugin der Unterhaltung wurde. Schließlich hatte er Kapnu Singa angesprochen, nicht umgekehrt …
    Â»Wie auch immer«, seufzte

Weitere Kostenlose Bücher