Der blutrote Kolibri
zu.
Der Kolibri umschwirrte Animaya wie eine honigduftende Blüte, dann flog er einen weiten Bogen und verschwand in einer der engen Gassen.
Halt, warte!, hätte Animaya beinahe gerufen. Im letzten Moment konnte sie die Worte noch zurückhalten. Sie rannte los. Lautlos prallten ihre Zehen auf das Pflaster, lautlos stieÃen sie sich wieder ab. Diese Technik hatte Animaya in den vergangenen vierzehn Jahren perfektioniert. Bei jedem Schritt trieb sie die Furcht an, den Kolibri wieder zu verlieren. Diesmal aber flog Achachi nur so weit voraus, dass Animaya ihm mühelos folgen konnte.
Wie anders doch alles in der Nacht aussah. Paititi war zu einer fremden Stadt geworden. Die Wohnhäuser duckten sich wie frierende Tiere in die StraÃen, eng aneinandergekuschelt, Mauer an Mauer. Auf den Vorderseiten gähnten die Eingänge wie schwarze Löcher, zahnlose Mäuler, hinter denen die Einwohner friedlich schliefen.
Nein, korrigierte Animaya ihre Gedanken, hinter denen sie unwissend schliefen. Blind für die Realität. Am eigenständigen Denken von den alles regelnden Gesetzen gehindert und niedergedrückt von der schweren Arbeit, die ihnen der Inka angeblich zum Wohle der Gemeinschaft auf die Schultern lud.
Animaya lief ein Schauer über den Rücken. Diese Gedanken waren gotteslästerlich, noch immer lieà sie ihnen keinen freien Lauf. Zu oft war ihr in den vergangenen vierzehn Jahren das Gegenteil eingetrichtert worden.
Der Kolibri kannte diese Scheu nicht. Er führte Animaya an den schier endlosen Seitenwänden des Tempels entlang. Etwa nach der Hälfte der Tempelmauer wölbte sich eine schmucklose Steinbrücke über den Fluss der Abwässer.
Animaya hastete die Stufen hinauf, hielt einen Moment inne und lauschte. Für die Wachmänner in ihren schweren Rüstungen war es unmöglich, sich geräuschlos fortzubewegen. Das dumpfe Scheppern der Gürteltierpanzer verriet sie schon von Weitem.
Nicht stehen bleiben!, spornte Animaya sich an. Vorsichtig ging sie auf alle viere und krabbelte die Stufen auf der anderen Seite des Kanals hinunter. Die Treppe konnte von mehreren Stellen aus unbemerkt eingesehen werden, aber die Luft schien rein zu sein.
Animaya erhob sich wieder und sprintete in die nächste Gasse, die ihr der Kolibri zeigte. Plötzlich fing er unruhig an zu flattern, als hätte ihn ein starker Wind ergriffen.
Was â¦? Ehe Animaya die Frage fertig denken konnte, tauchten am Ende der StraÃe die Umrisse zweier Männer auf. Noch hatten sie Animaya nicht gesehen, aber in nur wenigen Herzschlägen würden sie aufeinandertreffen.
So flach wie möglich presste sich Animaya an die Häuserwand. Ihr Puls beschleunigte sich. Sie ermahnte sich, ruhig zu bleiben. Jetzt nur nicht durchdrehen! Bei jedem Schritt, den die beiden näher kamen, hoben sich ihre Konturen immer deutlicher vom dunklen Weg ab. Ein Kreischen ertönte â einer der Männer hatte einen gewaltigen Kondor auf der Schulter. Kapnu Singa!
Du musst eine Tür finden!, dachte Animaya panisch und tastete sich die Wand entlang. Eine Handbreit nach der anderen, denn eine hastige Bewegung musste in der leeren StraÃe zwangsläufig auffallen.
Jetzt rächte es sich, dass sie dem Kolibri blindlings gefolgt war. Ohne dabei nach Verstecken vor den Wachen Ausschau zu halten. Endlich erspürten ihre Fingerkuppen das Ende der Hauswand.
Die Brücke!, schoss es Animaya durch den Kopf. Sie könnte deine Rettung sein!
Zwischen zwei Atemzügen schob sie sich um die Hausecke herum. Nun für einen Moment aus dem Blickfeld der beiden Generäle, rannte sie gebückt auf den Abwasserfluss zu und zwängte sich unter die Brückentreppe. Keine Sekunde zu früh. Schon hallte Anaqs Kreischen von den Mauern des Palastes wider.
Animayas einziger Vorteil war das Plätschern des Flusses, das ihren rasenden Atem übertönte. Das hoffte sie zumindest.
Aus ihrem Versteck heraus hörte sie die vier Sandalen über das Pflaster schlurfen. Dann nahm sie einen Windhauch wahr. Anaq peitschte mit seinen gewaltigen Schwingen durch die Luft. Der Geruch von Aas und geronnenem Blut schlug ihr entgegen.
Erschrocken weitete Animaya die Augen, als sie ihr eigenes Spiegelbild auf der Wasseroberfläche bemerkte. So klein sie sich auch machte, die Gestalt eines kauernden Mädchens zeich nete sich deutlich ab.
Zu Animayas Entsetzen zeigte sich auf dem Wasser jetzt ein
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