Der blutrote Kolibri
dem passenden Spruch eines Yatiri vielleicht.
»Wir baden im Licht des vollen Mondes. Nichts reinigt den Geist mehr als seine Strahlen. Mama Killa sorgt für die, die an sie glauben.«
»Das ist der Mond?« Animaya war verblüfft. Sie kannte den Mond als blasse Erscheinung am Taghimmel, mal rund, mal schmal. Dass er nachts strahlen könnte, hatte sie nie in Erwägung gezogen.
Wisya zog Animaya am Ãrmel ihres Schlafkleids zu den anderen auf das Pflaster. Sofort wurde Animaya von einer mächtigen Energie durchflutet.
»Mama Killa?«, flüsterte Animaya. »Gehört sie zu den alten Göttern, von denen du mir erzählt hast?«
Neugierig betrachtete sie die Gesichter der Anwesenden. Einige von ihnen stammten aus ihrer Gasse. Die meisten aber waren ihr noch nie zuvor aufgefallen. Ihre ausgemergelten Kör per lieÃen aber erahnen, dass sie hierher ins Armenviertel gehörten.
Eine dürre Frau mit trockenem Husten starrte Animaya unumwunden an. »Ist sie das?«, fragte sie mit Ehrfurcht in der Stimme.
Der alte Mann neben ihr nickte. Erst als er zu sprechen begann, erkannte Animaya ihren Nachbarn wieder. Vinoc war wie verwandelt. Sein Haar war ordentlich gekämmt, der Blick klar, die Haltung aufrecht und stolz. Er wählte seine Worte sorgfältig und trug sie ohne Zögern vor, was Animaya zutiefst überraschte.
»Einst galt Mama Killa als Intis Gemahlin. Doch einem Inka weit vor unserer Zeit gefiel es nicht, dass Gott so schwach sein sollte, eine Frau zu haben. Er verbat den Glauben an sie und bestrafte jeden, den er beim Gebet an sie ertappte, auf grausame Weise. Jedes Ebenbild von Mutter Mond wurde säuberlich von den Mauern heruntergeklopft, die silberne Scheibe mit dem Gesicht verschwand aus ganz Paititi.«
Wisya strich ihm sanft über den Arm. »Aber Animaya brennen sicher noch weitere Fragen auf der Zunge, nicht wahr?«
Animaya nickte verhalten. Das Benehmen all dieser Menschen hier war mehr als seltsam â Baden im Licht der Him melsscheibe, die sie Mutter Mond nannten! Gleichzeitig merkte sie aber, dass auch ihr die Strahlen guttaten. Silbrig glänzte ihre Haut, die innere Anspannung war wie weggeblasen. Als Wisya ihr einen weiteren Becher mit Quellwasser reichte, trank Animaya ihn in einem Zug leer.
»Trefft ihr euch jede Nacht hier?«, fragte sie leise.
Vinoc lachte. »Nein, so voll wie heute ist der Mond nur alle achtundzwanzig Tage, dann wird er dünner und die Kraft seiner Strahlen schwindet. Auch die Albinas wissen sie zu schätzen. In diesen Nächten hört man im Wald ihre Klagen.«
»Dass du eine Yatiri bist, weià ich längst«, platzte Animaya heraus.
»Natürlich weiÃt du das«, entgegnete Wisya. »Ich habe dir ja die Augen geöffnet. Wir brauchen jeden, der einen klaren Kopf hat. Es werden immer mehr, die mit den Zuständen nicht zufrieden sind. Man kann wenige Menschen ein Leben lang täuschen oder alle für eine kurze Zeit. Aber alle Menschen für immer zu täuschen, das ist unmöglich. â So hat Tinku Chaki es uns gepredigt.«
Wut kochte in Animaya hoch. Sie wollte schon im Flüsterton Lasst meinen Vater aus dem Spiel! schreien, doch dann erinnerte sie sich.
Eines Nachts, als sie noch ein kleines Mädchen war, war sie mit Halsschmerzen aufgewacht. Sie hatte nach ihrem Vater getastet, aber Tinku Chaki war nicht auf seinem Lager gewesen. Und auch sonst nirgendwo in der Kammer. Es hatte lange gedauert, bis sie wieder eingeschlafen war. Seltsam, dass sie das vergessen hatte â¦
»Mein Vater hatte Kontakt zu euch?«
Wieder musste Vinoc lachen. »Kontakt? Das kann man wohl sagen! Tinku Chaki hat uns aus der Dunkelheit geführt. Mit seiner Willenskraft und Wisyas Fähigkeiten haben wir diese Gruppe überhaupt erst aufgebaut. Wenn er doch nur ein bisschen länger gelebt hätte, dann â¦Â«
Vinoc stand auf, schöpfte einen Krug vom sprudelnden Wasser und lieà ihn herumgehen. Jeder trank, reichte ihn dann nach links weiter und streckte die Arme dem Himmel entgegen.
»Mama Killa, gib uns Kraft!«, raunten sie wie aus einer Kehle. »Gib uns Kraft, damit wir den Tag unserer Freiheit noch erleben!«
»Wovon redet ihr da?«, flüsterte Animaya, als das Gebet beendet war. »Was wollt ihr eigentlich?«
»Wie du bemerkt hast, sind wir innerhalb des Kohlekreises vor allen Blicken und unsere Worte vor allen Ohren
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