Der blutrote Kolibri
kamen ihr die eigenen Bewegungen vor. Auch der Kolibri, sehnsuchtsvoll erwartet, war nicht mehr aufgetaucht, als hätte er seinen Teil in dem Schauspiel schon erfüllt. Gepfiffen hatte er kein einziges Mal mehr.
In der dritten Nacht nach dem Fest lag Animaya auf ihrer Pritsche. Obwohl sie müde war, wollte der Schlaf nicht kommen. Sie stand auf und kniete vor dem Lumenkristall, wie immer, wenn sie ihren toten Eltern nah sein wollte. Animaya seufzte schwer. Erst in diesem Augenblick wurde ihr bewusst, dass nun alle von ihr gegangen waren. Das Glimmen des Kristalls legte einen zartgoldenen Schimmer auf ihr Gesicht.
Da entdeckte sie ihn. Auf seinen dünnen Beinen stakste der Kolibri hinter dem Kristall hervor. Hatte er auch schon in den vergangenen Nächten hier im Versteck über sie gewacht? Mit dem Zeigefinger strich Animaya ihm das Gefieder glatt und der Kolibri piepste leise.
»Vater!«, schluchzte sie auf. »Nie habe ich mich so einsam gefühlt. Nawi ist jetzt Konkubine und Pillpa muss im Tempel dienen. Für andere mag es eine groÃe Ehre sein, aber nicht für sie. Wisya wage ich nicht mehr anzusehen und du â¦Â«
Sie umschloss den Vogel mit der Hand. Bilder von Tinku Chaki im goldenen Kolibrikäfig stiegen in ihr auf. »Ich weià nicht, was ich glauben soll. Steckt deine Energie wirklich in diesem winzigen Körper?« Sie öffnete kurz die Hände, in der Hoffnung auf ein Zeichen des Vogels, doch er blickte nur lautlos zu ihr auf.
Traurig setzte sie sich auf ihre Pritsche. Ach könnte der Kolibri nur all ihre Fragen beantworten! Was war am Tag des Haremsfestes mit ihr geschehen? War es so, wie die beiden Alten gesagt hatten? War sie nun erwachsen und musste sich entscheiden, wie sie ihrem Volk dienen wollte?
Voller Widerwillen dachte sie an Kapnu Singa. In seinem Blick hatte nur Verachtung gelegen, Hochmut, Machtgier und Gemeinheit. Alles, was sie früher an ihm bewundert hatte, verabscheute sie mit einem Mal. War es Wisyas Paste gewesen, die ihr die Augen geöffnet hatte? Oder der flehende Blick der geschundenen Albina?
So oder so, die Ordnung, an die sie ihr ganzes Leben geglaubt und deren Gesetze sie immer mit groÃer Sorgfalt befolgt hatte, war ein für alle Mal durcheinandergebracht. Man hatte sie und die anderen Untertanen schändlich ausgenutzt.
Animaya schnaubte vor Wut und sie spürte eine noch nie da gewesene Entschlossenheit.
»Wenn du mein Vater bist, dann zeige mir, was ich tun soll!«, flüsterte sie dem roten Kolibri zu. »Was verlangst du von mir?«
Dann lachte sie leise. »Ach was mache ich nur mit dir? Und wie soll ich dich überhaupt nennen? Ich kann ja schlecht Vater zu dir sagen.« Sie dachte einen Moment nach. »Aber wie wäre es mit Achachi, unserem Wort für alter Man n ?«
Mit den kleinen Flügeln strampelnd, befreite sich der Kolibri aus Animayas Hand und schwirrte im Zimmer herum.
»Zeige mir, was ich tun soll!«
Animaya bot ihm die Hand als Landeplatz an, als drauÃen auf dem Gang ein Geräusch erklang. Ein Wischlaut, wie wenn ein nackter Fuà über Stein gezogen wird.
Wisya!, durchfuhr es Animaya. Sie kommt!
Weil Animaya nicht wusste, was sie tun sollte, blieb sie einfach stocksteif auf der Pritsche sitzen. Das Herz hämmerte ihr fast ein Loch in den Brustkorb. Doch die Person im Flur huschte an Animayas Kammertür vorbei und auf die Gasse hinaus. Eine zweite Gestalt folgte. Animaya schloss vor Erleichterung die Augen. Sie zog sich die Decke über den Kopf, wollte mit der Sache nichts zu tun haben. Wenn die beiden erwischt wurden, wie sie nachts durch die Stadt liefen, verloren sie mehr als nur einen Finger. Die Gesetze des Inka sagten eindeutig â¦
»Schluss damit!«, zischte Animaya und schlug die Decke zurück. »Die Zeit des Duckmäusertums ist endgültig vorbei. Ich bin erwachsen!«
Ehe sie sichs versah, stand Animaya vor ihrem Haus, mitten in der Nacht. Es war ein so ungeheuerlicher Schritt, eine so gewaltige Regelüberschreitung, dass sie einen Augenblick innehalten musste, ob nicht der Palast einstürzte. Sie sah zum Himmel. Eine glänzende Scheibe, silbern wie die Fäden in ihrem Brautkleid, stand dort oben. Ganz anders als Inti, aber wunderschön. Um sie herum strahlten helle Tupfen am Firmament, scheinbar wahllos von einer mächtigen Hand dort hingeworfen.
»Was ist mit der Sonne passiert?«, flüsterte sie Achachi
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