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Der blutrote Kolibri

Der blutrote Kolibri

Titel: Der blutrote Kolibri Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thilo P. Lassak
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geschützt«, erklärte Vinoc in ungewohnter Lautstärke. »Unsere Gruppe trifft sich zum Gebet an die alten Götter, aber auch, um den Aufstand gegen Tupac vorzubereiten.«
    Animaya konnte nicht anders, sie lachte laut auf. »Aufstand gegen den Inka? Noch ehe ihr einen Knüppel aufgehoben habt, wird euch Kapnu Singas Steinschleuder wie einen Baum fällen!«
    Vinoc nickte. »Noch wäre es so, richtig. Aber der Unmut im Volk wächst mit jedem Tag. Das stinkende Wasser macht die Armen immer kränker. Wenn wir ein erstes Zeichen setzen, als Symbol für alle, dass es Widerstand gibt, dann könnte sich eine Revolution erheben und …« Die Schultern des Alten sackten herab, als könnte er seinen Worten selbst nicht recht Glauben schenken. »Ein Anfang ist bereits gemacht. Heute Nacht erwarten wir einen der Generäle, der auf unserer Seite steht. Er hat angekündigt, wichtige Informationen für uns zu haben.«
    Wisya öffnete einen Beutel und schüttete getrocknete Blätter in eine Schale vor sich. »Ich fange schon mal an, er wird sicher gleich da sein.«
    Animaya sah ihr zu. Wisya hatte die Kräuter angezündet und kniete wie abwesend in den aufsteigenden Dämpfen. Das Mondlicht verwandelte ihre Züge in eine Maske aus blankem Silber.
    Da erst sickerten die Worte der beiden richtig zu ihr durch. »Ihr erwartet einen General? Hat er eine weiße Haarsträhne?«
    Vinoc, Wisya und die anderen drehten verwundert den Kopf zu Animaya.
    Â»Ich will mich hier nicht in den Vordergrund drängen«, verteidigte sie sich leise. »Aber wenn ihr auf ihn wartet, wartet ihr vergeblich. Kapnu Singa hat ihn dazu überredet, mit ihm auf Jagd nach Krokodilreitern zu gehen. In der Lagune. Er hieß …«
    Â»Pscht! Nenne niemals seinen Namen!« Wisya würgte die Worte hervor, als säße ihr ein Frosch in der Kehle. Aller Augen hingen nun an ihr. »Und du bist dir sicher?«
    Animaya nickte. »Er unterhielt sich mit Kapnu Singa über den Bau einer neuen Stadt …«
    Wisya sprang auf. »Dieser Narr, warum konnte er nur den Mund nicht halten!« Dann wandte sie sich an die Gruppe. »Geht nach Hause. Der General wird uns alles in einer anderen Nacht mitteilen – wenn er morgen noch lebt!«

DIE AUGEN DES WALDES
    Der weiße Vollmond spiegelte sich majestätisch auf der glatten Wasseroberfläche, nur eine leichte Strömung kräuselte seine Konturen. Ein Fisch sprang, vom Licht angelockt, einen übermütigen Bogen durch die kühle Luft. Strudel plätscherten leise hinter den armdicken Lianen, die von den untersten Ästen der Urwaldriesen im Knochenfluss baumelten. Mit aufgerissenen Mäulern kreisten Fledermäuse am Ufer entlang auf der Suche nach fleischigen Motten. Kein Affe war zu sehen, kein Papagei zu hören. Nur ein Jaguar fauchte in der Ferne. Die Wesen der Nacht hatten das Zepter im Urwald übernommen.
    Plötzlich wurde das Spiegelbild des Mondes von schmalen Wellen zerrissen. Etwas Großes teilte den Fluss, feine Linien hinter sich herziehend. Auf dem Rücken seines Krokodils ritt Natan durch den Strom.
    Obwohl Gator so lang war wie drei ausgewachsene Männer, glitt er beinahe lautlos dahin. Sein starker Schwanz schlug in gleichmäßigem Rhythmus hin und her, die Augen registrierten jede Bewegung.
    Diese Mischung aus stoischer Ruhe und unbändiger Kraft faszinierte Natan an seinem Tier immer wieder. Gedankenverloren strich er Gator über den Kopf. Das Krokodil schnaufte durch die Nasenlöcher vorne an der flachen Schnauze.
    Mit unterschiedlichen Gefühlen nahm Natan die Stadt zur Kenntnis, die vom vollen Mond beschienen wie ein Fremdkörper im Wald leuchtete. Der glatt geschliffene Stein reflektierte jedes Licht, daran änderte auch der Bewuchs nicht viel. Sie war noch etwa hundert Mannslängen entfernt.
    Natan überprüfte die Ledergurte, die er um Gators Bauch gelegt hatte. Einen nach dem anderen straffte er, um seine Waffen nicht zu verlieren. Links waren griffbereit die Pfeile, rechts die Kurzlanze und das Muschelschwert. Den Bogen trug er sicherheitshalber auf dem Rücken.
    Der Wald, seit Anbeginn der Zeit Freund seines Stammes, war in Unordnung. Der Knochenfluss führte mehr Schlamm mit sich als jemals zuvor. Kadaver von unbekannten Tieren wurden angeschwemmt, mehr als die Aasfresser herunterwür gen konnten. Das Wasser schmeckte bitter,

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