Der blutrote Kolibri
Animaya und blickte zum Kolibri auf. »Du wirst schon wissen, warum du mich hierhergeführt hast. Für heute Nacht habe ich jedenfalls genug Aufregung gehabt.«
Der Kolibri gab keinen Laut von sich. Als Animaya aber den Heimweg einschlagen wollte, flatterte er nervös um sie herum.
»Nein! Ich gehe nach Hause!« Animaya verspürte nicht die geringste Lust, sich noch einmal in Todesgefahr zu begeben. Sie hatte nicht einmal drei Schritte gemacht, da begann der Kolibri lautstark zu pfeifen.
»Sei still!«, zischte Animaya. »Du weckst ja alle Leute auf!«
Achachi pfiff ungerührt weiter.
Animaya versuchte ihn einzufangen, aber der Kolibri konnte ihren unbeholfenen Sprüngen mit Leichtigkeit ausweichen. Seine Pfiffe wurden immer lauter.
»Kapnu Singa kommt zurück, wenn du so weitermachst. Willst du das?«
Achachi verstummte einen Augenblick lang und flog ein Stück in die StraÃe hinein, aus der die Generäle gekommen waren. Als sie dem Vogel nicht sofort folgte, pfiff er ein weiteres Mal.
Animaya ballte die Faust. »So etwas Stures!«, schimpfte sie vor sich hin. Aber es blieb ihr nichts anderes übrig, als dem Kolibri nachzulaufen. Insgeheim musste sie sogar schmunzeln. Sie hatte sich auf den Wettkampf mit einem daumengroÃen Vogel eingelassen â und verloren! Achachi schien es also wirklich ernst zu sein. Er hatte eindeutig den gleichen starken Willen wie ihr Vater.
Durch das schmale Tor in der Mauer betrat sie das Armenviertel. Auf einem Platz zwischen halb verfallenen Gebäuden blieb der Kolibri unerwartet in der Luft stehen. Auch Animaya verlangsamte ihre Schritte. Der Ort war ihr schon tagsüber nicht geheuer. Jetzt war er unerträglich. Hinter vielen Türen winselten die Menschen noch im Schlaf vor Hunger.
»Was soll ich hier?«, wisperte sie.
Achachi legte den Kopf schief und landete auf dem Speier einer Quelle. Das Wasser sprudelte im blauen Licht der Himmelsscheibe aus tiefster Erde in ein Becken. Animaya glaubte ihren Augen nicht zu trauen: Das Wasser war wieder so klar wie früher! Und in den Stein des Bassins war ein ihr fremdes Gesicht geschlagen. Es trug die gütigen Züge einer Frau mittleren Alters.
Abbilder des Menschen zu schaffen, ist nicht erlaubt.
»Schön, dass du gekommen bist!«, grüÃte eine Stimme. Wie aus dem Nichts erschien Wisya neben der Quelle. Animaya merkte, wie sich alles in ihr zusammenzog. Die Erinnerung an ihre letzte Begegnung mit der Nachbarin war ihr noch schmerz lich in Erinnerung.
Animaya sehnte sich danach, zu Wisya zu gehen und die Arme um sie zu legen, wie sie es viele Jahre lang getan hatte. Aber ihre Angst siegte. Wenn man sie beide hier erwischte, würde das schreckliche Folgen haben. Bevor sie es sich anders überlegen konnte, drehte Animaya sich blitzschnell um und rannte zurück. Weit kam sie nicht. Kurz vor dem schmalen Tor stieà sie mit einem fleischgewordenen Schatten zusammen: Wisya. Wie war das möglich? Animaya wich ein Stück zurück.
»Was willst du von mir?«, fauchte sie die alte Frau an.
Statt einer Antwort öffnete Wisya die Faust und hielt sie Animaya hin. Achachi hockte darin, den langen Schnabel in seinem struppigen Gefieder. Er drehte den Hals und pfiff. Dreimal kurz, einmal lang.
»Achte auf dein Gefühl, mein Mädchen«, sagte Wisya sanft. »Und jetzt komm. Die anderen warten.«
Die alte Bäuerin packte Animaya sanft am Arm und zog sie zurück auf den Platz. An der Quelle nahm sie einen Becher aus Ton und füllte ihn mit Wasser. Animaya trank begierig.
Als sie wieder aufblickte, sah sie die anderen. Mindestens vierzig Menschen hockten mit überschlagenen Beinen links und rechts neben dem Becken. Die Männer trugen nur ein Tuch um die Hüften, die Frauen bedeckten zusätzlich noch ihre Brust mit schmalen Stoffstreifen. Alle hatten sich der Himmelsscheibe zugewandt, die ihre Körper in blaues Licht tauchte. Manche von ihnen nickten Animaya zu, als hätten sie gewusst, dass sie heute Nacht hier auftauchen würde.
»Wie ist es möglich �«, entfuhr es ihr.
»Fühlen und die Augen öffnen, dann siehst du alles«, antwortete Wisya auf die unvollendete Frage.
Jetzt fiel Animaya der Kohlestrich auf, der ohne Unterbrechung um die Menschen herumgezogen war. Ein Kreis mit einem weiblichen Gesicht, wie auf der Einfassung der Quelle. Konnte dieser einfache Strich Blicke abhalten? Mit
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