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Der blutrote Kolibri

Der blutrote Kolibri

Titel: Der blutrote Kolibri Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thilo P. Lassak
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festzuhalten, erreichte Animaya aber nicht. »Warte! Da gibt es noch etwas, was ihr unbedingt sehen solltet. Es ist der Grund dafür, dass man uns alle blendet. Die Priester nennen ihn den Saal der Wahrheit . Nur der Inka darf ihn betreten – oder wer kein Augenlicht mehr hat.«
    Animaya zögerte. Ihre Gedanken waren schon bei Makuku. Was, wenn sie zu spät kam, um das heilige Fohlen zu retten? Und das nur vor lauter Neugier!
    Â»Das Kleine erkennt den Thronfolger, sobald es vor ihm steht, Ani. Aber es kann dich nicht zu ihm führen. Im Saal der Wahrheit wirst du erfahren, wo du suchen musst«, versprach Pillpa. »Und noch vieles mehr.«
    Animaya blieb keine Wahl, also folgten sie Pillpa in den angrenzenden Saal. Obwohl Pillpa erst seit wenigen Tagen blind war, bewegte sie sich schon mit erstaunlicher Sicherheit vorwärts. Ringsherum erkannte Animaya die Schatten weiterer Steinfiguren an den Wänden. Durch ein Loch in der Decke strahlten die Sterne herein. Direkt darunter war ein mächtiger Block platziert, ohne Zweifel der Altar. Erst als sie direkt daran vorbeilief, erkannte Animaya die Opfergabe: ein Lamaguafohlen. Angewidert betrachtete sie es im fahlen Licht. Es hatte nur einen Kopf.
    Â»Hier beten wir zu Inti«, erklärte Pillpa leise. »Er bekommt mehr Nahrung als das gesamte Armenviertel zusammen.«
    Vor der Längswand stoppte Pillpa. Sorgfältig tastete sie die Mauer ab. Als Animaya schon fragen wollte, was ihre Freundin da machte, rastete ein Mechanismus ein. Eine Geheimtür schwang auf.
    Â»Vom ersten Tag an habe ich mich auf meine Flucht vorbereitet«, flüsterte Pillpa. »Ich habe mir alles gemerkt. Kommt!«
    Animaya zögerte. Hinter der Tür war nicht mehr als ein schwarzes Loch zu erkennen. Modriger Geruch schlug ihnen entgegen. Der Gang schien bis weit unter die Erde zu gehen.
    Â»Mein Bedarf an Enge und Gestank ist eigentlich für heute gedeckt«, murmelte sie.
    Dessen ungerührt verschwand Achachi in der Tiefe.
    Â»Wenn sich so ein winziger Vogel traut …«, neckte Natan Animaya.
    Sie verpasste ihm einen Knuff. Einen Moment noch konnte sie etwas sehen, dann ging die Tür hinter ihr wieder zu. Nun war es stockdunkel.
    Â»Ein Lumenkristall wäre nicht schlecht«, murmelte Animaya.
    Â»Entschuldigung«, antwortete Pillpa irgendwo vor ihr. »Wenn man blind ist, vergisst man so etwas.«
    Stufe um Stufe tasteten sie sich abwärts. Animaya hörte irgendwann auf zu zählen. Nach einer schieren Ewigkeit wurde es wieder heller und Animaya konnte erkennen, dass vom Treppenschacht ein langer Gang wegführte. An dessen Ende lag ein perfekt verfugtes Gewölbe mit einem offen stehenden Gittertor.
    Â»Warum ist dort Licht?«, fragte Animaya.
    Ãœber Pillpas Gesicht huschte ein Lächeln. Als wäre ihr wieder eingefallen, dass es so etwas Schönes wie die Sonne gab. Kurz war sie fast so hübsch wie früher, doch dann wurde sie wieder ernst und traurig.
    Â»Hier ist das Verlies, wo Kapnu Singa die Albina gefoltert hat«, erklärte sie voller Abscheu.
    Das Grauen packte Animaya und ließ sie nicht weiterge hen. Der Blick, der augenlose, flehende Blick der Albina würde sie bis an ihr Lebensende verfolgen. Ohne auf die anderen zu achten, ging sie näher.
    Die Decke des Kerkers war höher als die des Ganges. Das gleißende Licht einer Lumenpeitsche beleuchtete ihn. Animaya sah die metallenen Ösen in verschiedenen Höhen an der Wand, die alle das dreistufige Kreuz trugen. Hier war die Albina wahrscheinlich festgekettet gewesen, unfähig, sich gegen die Kraft des Schutzsymbols zu wehren. Überall in diesem schaurigen Gefängnis standen Holzblöcke, manche mit Ausbuchtungen für Hände oder Füße. Unzählige Blutspritzer an den Mauern erzählten davon, dass nicht nur Albinas, sondern auch Menschen hier drin gemartert worden waren.
    Â»Mir wird kalt.« Pillpa wollte sie weiterziehen, doch Animaya riss sich los.
    Â»Warte!« Glänzte da nicht etwas in der schimmeligen Laub streu? Schnell eilte Animaya zu der Stelle, um nachzusehen. Beißender Schwefelgeruch hing im Raum und schnürte ihr die Luft ab. War das ein Zeichen dafür, dass die Albina an dieser Stelle ihr Leben ausgehaucht hatte?
    Animaya ging in die Hocke. Da lag etwas, direkt unter den Ösen. Als sie erkannte, was es war, taumelte sie rückwärts. Sie hatte so etwas schon oft im Gehege

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