Der blutrote Kolibri
eng und stickig. Es stank bestialisch nach Exkrementen und vergammelten Fleischabfällen. Animaya dachte lieber nicht darüber nach, worin sie sich gerade wälzte. Sehen konnte sie sowieso nichts, und mit jedem Stück, das sie zurücklegte, wurde es noch dunkler. Wie in einem Grab. Der obere Rand des Rohrs schabte ihr über die Schultern, an dem unteren riss sie sich Knie und Unterarme auf. Sie zwang sich regelmäÃig zu atmen, um ja keine Platzangst zu bekommen. Immer wenn Animaya glaubte, sie könnte auf keinen Fall mehr weiterkriechen, spürte sie Natans Hand an ihrer Ferse. Ich bin ja da, sagten ihr seine Finger.
»Rechts geht es zum Gehege«, flüsterte Natan, als Animaya an einer Gabelung stoppte. »Von links kommt klares Wasser.«
Animaya dachte kurz nach. Im Palast des Inka wurde Wasser so verschwenderisch eingesetzt, dass die engen Rohre dafür nicht ausreichten. Seine Abwässer liefen überirdisch durch einen Kanal aus der Stadt. Der linke Weg konnte also nur zum Tempel führen, denn hier in der Gegend hatte niemand flieÃendes Wasser im Haus. Auch die Nähe des Tempels zum Gehege der Göttertiere sprach dafür. Die Abwässer konnten in einer Leitung zusammenlaufen.
»Wir versuchen es«, antwortete Animaya leise. »Uns bleibt sowieso keine andere Wahl.«
Sie legte sich auf die Seite, knickte in der Hüfte ab und wand sich um die Kurve. Das Rohr war sogar noch enger als das erste. Animaya schaffte es kaum, sich hineinzuzwängen. Schweià brach ihr aus allen Poren. Wenn es noch schmaler wurde, steckte sie fest. Dann gab es kein Zurück mehr.
Animaya nahm all ihren Mut zusammen und rutschte weiter. Plötzlich ergoss sich ein Schwall Wasser kurz vor ihrem Gesicht in den Kanal. Sie japste vor Schreck. Ãber ihr musste ein Loch im Rohr sein. Sie tastete die Decke über sich ab und fand die Aussparung. Mit einer verzweifelten Bewegung zog sie sich hoch â und war im Tempel.
DIE CHRONIKEN
Animaya tauchte stinkend und nass bis auf die Knochen aus der Kanalisation auf. Sie wollte schon erleichtert aufatmen. Doch als sie den Kopf hob, entfuhr ihr ein spitzer Schrei. Nur ein paar Schritte von ihr ent fernt stand ein Mann und hielt einen Speer auf sie gerichtet.
»Bitte â¦!«, versuchte Animaya zu erklären, was nicht zu erklären war.
Nach der absoluten Dunkelheit im Rohr konnte sie von ihrem Gegenüber kaum mehr als die Umrisse sehen. Nicht einmal erkennen, ob es ein Priester war oder eher ein General. Die Fackeln, die um ihn herum aufgestellt waren, blendeten zu stark.
»Ja, ich gehöre nicht hierher«, sagte Animaya so, dass auch Natan sie hören musste. Vielleicht kam so wenigstens er mit dem Leben davon. Sie musste Zeit gewinnen! »Zieh mich raus, dann erkläre ich dir alles.«
Der Mann reagierte nicht. Stumm und unbeweglich stand er da, starrte auf ihren Kopf.
Animaya machte den Mund auf, um noch etwas zu sagen, schloss ihn aber gleich wieder. Nichts geschah. Der Mann war tot. Schon merkte Animaya, wie sich ein weiterer Schrei in ihrer Kehle nach oben arbeitete. Aber sie riss sich zusammen. So schlimm der Anblick auch sein mochte, er konnte sich nicht mit dem messen, was die Spinnenmenschen Vinoc angetan hatten.
Entschlossen zog sie sich aus dem Rohr. Es endete in einem Wasserbecken, in dem ein Mann im Liegen bequem Platz gefunden hätte. Ãber ihr ragte eine goldene Leitung aus der Wand, von der in stetem Rhythmus Tropfen auf ihr Haar herab fielen.
Animaya stieg aus dem Becken, ohne den toten Mann aus den Augen zu lassen. Der Raum maà etwa zwanzig mal zwanzig Schritte. Neben dem Bassin war der Tote aufgestellt.
Jetzt bemerkte sie, dass auch an der Wand gegenüber von der steinernen Wanne eine Reihe regloser Männer stand. Links und rechts ebenfalls. Aber es waren keine mumifizierten Körper, wie Animaya sie vom Haremsfest kannte. Diese Männer hier ⦠waren aus Stein!
Da hörte Animaya wieder das Flattern des Kolibris. Ohne Scheu hockte Achachi sich einer Steinfigur auf die groÃe Nase. Die Luft schien also rein zu sein.
»Komm herauf!«, flüsterte Animaya ins Rohr. »Wir sind allein.«
Beim Anblick der Steinfiguren schüttelte Animaya fassungs los den Kopf. Unwillkürlich betete sie die Regel dreiundzwanzig herunter: »Die Tiere des Dschungels malen nicht. Deshalb soll auch das flüsternde Volk keine Zeichnungen anfertigen. Alle wichtigen
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