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Der blutrote Kolibri

Der blutrote Kolibri

Titel: Der blutrote Kolibri Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thilo P. Lassak
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Er zeigte auf einen riesigen herausgemeißelten Baum, der sich soeben aus dem Würfel schob. In seinen Ästen hing Vinoc, umringt von Spinnenmenschen. Unter ihm, an einem Seil, baumelte ein Mädchen. Ein Junge auf einem Krokodil schoss Pfeile ab.
    Ein Stück weiter vorne auf der Platte ritten ein Mann und ein Mädchen auf Lamaguas durch den Wald. Rauch stieg vor ihnen auf.
    Ratt, ratt.
    Und ganz am Anfang des Steins lief eine Frau mit erhobenen Armen auf das Stadttor zu. Hinter ihr zwei Lamaguas und ihre Reiter.
    Â»Das bin alles ich! Warum haut uns die Maschine in Stein?«, wunderte sich Animaya.
    Â»Weil eure Taten für die Geschichte des Volkes wichtig sind«, antwortete Pillpa. »Wenn ein Sack Mais im Palast umfällt, notiert die Maske das nicht. Alles, was du hier drin siehst, sind die großen Ereignisse unserer Geschichte. Die Goldene Maske hält sie für unsere Nachfahren fest.« Sie hockte sich auf den Boden. »Wir Tempeldienerinnen hauen die Rohlinge aus dem Felsen und schieben sie hierher. Die fertigen bringen wir zu der Stelle, die ein blinder Priester uns zeigt. Der Rest passiert da im Würfel.«
    Â»Aber wieso ist es wichtig für das Volk, wenn ich zu den nördlichen Feldern reite?«, fragte Animaya nachdenklich.
    Ihre Freundin zuckte die Achseln. »Manchmal wissen wir Menschen erst im Nachhinein, welche Taten von Bedeutung waren. Die Maske aber weiß es sofort.«
    Natan trat ein paar Schritte zurück. »Gut, dann ist hier sicher auch festgehalten, was mit dem Kind des Inka passiert ist. Wo habt ihr die letzte Platte hingebracht?«
    Â»Der Raum ist zu groß, ich kann mich noch nicht so gut orientieren«, entschuldigte sich Pillpa. Sie machte eine vage Handbewegung in Richtung Hallenende. »Etwa da, würde ich sagen.«
    Sofort liefen Natan und Animaya los. Tatsächlich fanden sie die letzte Platte. Wie von Natan vermutet, waren die Bildtafeln so geordnet, dass die zeitliche Abfolge gewahrt blieb. Platte an Platte waren hier die letzten Jahre, Jahrzehnte, Jahrhunderte verewigt.
    Der Saal der Wahrheit diente als Archiv des flüsternden Volkes. Hintereinander ergaben die Aufzeichnungen gemei ßelte Chroniken, unverfälschte Geschichte. Kein Wunder, dass nur der jeweilige Inka sie sehen durfte. In einem Staat, der auf Lügen aufgebaut war, konnte die Wahrheit zerstörerischer als jedes Feuer sein.
    Voller Eifer überflog Animaya die steinerne Fläche vor sich. Zwei Männer ritten durch leere Straßen. Einer von ihnen zog ein Wesen hinter seinem Lamagua her, das nur ganz zart in den Stein gehauen war: die Albina. Bei einem Brunnen lugten die Haare eines Mädchens hervor, verborgen in einer Türöffnung war ein weiteres zu sehen. Das Gesicht war nicht zu erkennen, nur seine Hand, die einen winzigen Kolibri hielt.
    Die Vorbereitungen in den Häusern der Reichen zur Evakuierung. Kapnu Singa mit Peitsche vor der Albina. Albinas, die eine Maiskarawane überfielen. Das Haremsfest, bei dem ein Mädchen in die Luft geschleudert wurde. Ein Kreis um einen Brunnen, die Menschen darin ohne Gesichter, darüber der volle Mond. Kapnu Singa, der Milac am Fluss einen Kurzspeer in die Seite rammte. Etwas abseits von einem Krokodilreiter beobachtet.
    Das war also die Wahrheit!
    Animaya hastete die Reihe entlang. An einige der Ereignisse konnte auch sie sich noch erinnern, anderes hatte sie vergessen oder nie etwas davon gewusst. Wie lang waren hier zwei Jahre?
    Â»Wo willst du hin?« Natans Ruf hallte hinter ihr her. Sie achtete nicht darauf. Sie wollte jetzt endlich wissen, was mit ihrem Vater passiert war.
    Mit den Fingern glitt sie über die Einkerbungen auf den Steinen. Es schien keine regelmäßige Einteilung zu geben, die Maske schrieb auf, wenn etwas Wichtiges geschah. Offensichtlich waren auch Monate dabei, in denen sie keinen einzigen Schlag tat.
    Ratt, ratt.
    Endlich fand Animaya, was sie gesucht hatte: Ein Mädchen kniet auf den Stufen des Palastes, vor ihr ein aufgebahrter Leichnam. Eine Szene vorher Kapnu Singa mit dem Speer in der Hand. Auf dem Boden lag ein blutender Mann: Tinku Chaki. Kein Krokodilreiter weit und breit.
    Â»Was ist denn?« Natan hatte sie eingeholt.
    Animaya wandte sich ihm zu. Sie griff Perlenhauts Kopf und zog ihn an sich. Dann hauchte sie ihm einen Kuss auf die Lippen. Perlenhaut schloss die Augen. Animaya spürte sein Herz an ihrer Brust klopfen. Es war genauso aufgeregt wie

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