Der blutrote Kolibri
Ereignisse werden vom Inka erinnert.«
Ein Leben lang war sie gelehrt worden, dass ihr Volk keine Ebenbilder des Menschen aus Stein hauen durfte. Keine Statuen, keine Büsten, keine Gesichter. Inti werde dadurch verhöhnt, sagten die Lehrer. Denn der Mensch solle nicht tun, was allein einem Gott zustehe: Leben schaffen, Körper formen. Und doch wimmelte der Raum nur so von Abbildern. An den kurzen Haaren und den Pflöcken in den Ohren waren sie als Generäle zu erkennen.
Als sie Natan darauf aufmerksam machte, zeigte er sich kaum erstaunt. »Bei uns in der Grotte haben wir eine Statue von Goromo, dem Krokodilgott«, sagte er mit einem Schulterzucken. »Sie ist schon so alt wie der Wald, aber die Kinder bei uns basteln ihn manchmal aus Holz und Steinen nach.«
Animaya ging zu dem Mann, der sie zunächst so furchtbar erschreckt hatte, und strich ihm über den Körper. Eindeutig Stein. Sie betrachtete die Haarsträhne, die unter seinem Helm hervorlugte. Die Statue ähnelte Milac. Waren die Figuren also eine Erinnerung an heldenhafte Generäle aus früherer Zeit, die auf diese Weise verewigt wurden? Aber das war undenkbar. Das Volk war auf dem Hungermarsch in den Wald gekommen â mehr gab es über seine Geschichte nicht zu erzählen. Das hatten die Lehrer immer wieder betont. Nur wer die Vergangenheit kennt, kann die Zukunft verändern. Aber was sollte früher so Wichtiges passiert sein?
Als Natan eine Hand auf Animayas Schulter legte, zuckte sie zusammen. Dann aber ergriff sie die Hand, ohne nachzudenken. Alles war leichter zu ertragen, wenn man zu zweit war. Sie drehte sich zu ihm um. Wieder hatte er Perlen auf der Haut.
»Ich weià nicht, was in diesem Raum passiert«, gab Animaya leise zu. »Ich weià überhaupt nichts vom Leben im Tempel. AuÃer den Generälen kommt hier niemand lebend raus.« Erst als das Echo des Satzes bereits verklungen war, registrierte Animaya seine Doppeldeutigkeit.
»Schöne Aussichten!«, murmelte Natan. Doch sogleich kehrte die Zuversicht in seine Miene zurück, die Animaya schon jetzt an ihm liebte. »Dann werden wir zwei eben die Ersten sein. Ich jedenfalls habe nicht vor, an diesem Ort zu sterben.« Er grinste breit. »Hier gibt es für meinen Geschmack nämlich viel zu wenig Wasser.«
Animaya lächelte. Noch etwas, was sie an dem jungen Krokodilreiter schätzte: seinen Humor.
Auf Zehenspitzen schlich Animaya zur einzigen Tür im Raum und sah durch den offenen Spalt. Ein mächtiger Saal schloss sich an, dunkel und menschenleer. Hastig kehrte sie zu Natan zurück und wusch sich am Becken den gröbsten Dreck vom Körper. Der Krokodilreiter selbst war sauber wie immer, glänzte im Licht und roch noch nicht einmal schlecht.
»Das Schwierigste haben wir hinter uns«, wisperte Animaya. »Wir sind im Tempel. Etwa hundert Priester und Tempeldienerinnen leben in diesen Mauern. Pillpa wird uns zur Albina bringen können, da bin ich mir sicher.«
Sie wischte sich mit dem Unterarm das Gesicht trocken und streckte die Hand nach dem Kolibri aus. Der blutrote Vogel nahm die Einladung an und flatterte zu ihr.
Animaya blickte ihm in die schwarzen Ãuglein. »Du musst uns helfen!«, flüsterte sie. »Hole Pillpa. Sie kennt unser Geheimzeichen. Wir verstecken uns hier solange!«
Achachi pfiff dreimal kurz, einmal lang, dann flog er davon.
Animaya hockte sich neben das Becken und zog Natan zu sich herunter. So waren sie nicht gleich auf den ersten Blick zu sehen, falls jemand hereinkam.
»Bestimmt findest du es sonderbar, dass ich mit einem Vogel rede â¦Â«
»Nein«, widersprach Natan. »Mit Gator teile ich all meine Gedanken. Ich glaube, in einem früheren Leben war er einmal ein mächtiger Krieger. Jetzt steht er mir zur Seite. Wenn ich nicht weiterweiÃ, kennt er den Weg.«
Animaya war verblüfft. Wakâa waren also auch den anderen Bewohnern des Waldes bekannt.
»Ich glaube, in Achachi steckt die geistige Energie meines Vaters Tinku Chaki. Er hat kurz nach meiner Geburt damit begonnen, den Sturz des Inka und seiner Weltordnung vorzubereiten. Aber er starb bei â¦Â« Animaya schluckte. Sie brachte nicht über die Lippen, wer ihn vor zwei Jahren getötet hatte.
»â¦Â und nun hilft er dir, sein Werk zu vollenden.« Für Natan gab es scheinbar keinen Zweifel daran, dass die Toten den Lebenden halfen â
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