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Der blutrote Kolibri

Der blutrote Kolibri

Titel: Der blutrote Kolibri Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thilo P. Lassak
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gesehen, wenn die Jaguare ihr Futter zerrissen.
    Natan war sofort bei ihr. »Was hast du?«
    Mit der Fußspitze wischte Animaya die trockenen Blätter beiseite. Auf dem nackten Steinboden ruhte ein verschrumpelter schwarzer Klumpen, kaum größer als eine Pflaume. Das also machte der Hass aus einem Herzen.
    Â»Komm«, beruhigte Natan sie. »Hier haben wir nichts verloren.«
    Aber Animaya konnte sich nicht loseisen. Albinas waren einmal Menschen gewesen, hatte Wisya gesagt. Menschen, die mit Rachegedanken gestorben waren. Jemand musste dieses Herz dort sehr schwer verletzt haben, dass es so verhärtet war. Jetzt lag es hier wie ein Stück Dreck. Wenigstens sie wollte ihm die letzte Ehre erweisen. Vorsichtig hob Animaya das Herz auf und steckte es in die Tasche ihres Kleides.
    Â»Es ist nicht mehr weit«, verriet Pillpa leise.
    Noch ein Stockwerk ging es hinab. Dann erreichten sie ein kleines Plateau, von dem eine Tür abging. Sie ließ sich öffnen und dahinter befand sich ihr Ziel: der Saal der Wahrheit.
    Alles hatte Animaya erwartet, nur nicht das, was sie jetzt sah. Die Halle war von gigantischen Ausmaßen, musste sich weit über die Fläche des Tempels hinaus erstrecken – aber sie war fast leer. Wofür sie einst erschaffen worden war, konnte Animaya sich nicht erschließen. Nur in seinem Zentrum, vom ewigen Licht aus Tausenden Lumenkristallen beleuchtet, stand ein Würfel aus schwarzem Obsidian. Sie schätzte die Länge seiner Seiten auf fünf Schritte.
    An der einen Seite des Würfels stapelten sich sauber behauene Steinplatten, alle knapp vier Schritte breit und zehn Schritte lang. Eine einzelne Platte, sie lag auf armdicken Baumstämmen, steckte etwa zur Hälfte in einem Schlitz des Würfels. Sie schien haargenau hineinzupassen. Der Rest lugte daraus hervor. In einer Nische, die im Würfel eingelassen war, schimmerte ein goldener Gegenstand.
    Neugierig ging Animaya näher. Schon aus mehreren Schritten Entfernung erkannte sie, was dort glänzte. Ihr Herz machte einen unregelmäßigen Schlag. Es gab sie also wirklich! In der Nische des Würfels stand aufrecht die Goldene Maske, das größte Heiligtum ihres Volkes.
    Animaya ging noch näher heran. Die Maske war aus gehämmertem Gold von einem Meister seines Fachs gefertigt. Die Maße stimmen nicht, dachte Animaya. Das Gesicht war doppelt so breit wie hoch. Dann aber dämmerte ihr, dass der Schöpfer dieses Kunstwerks die Proportionen absichtlich so gewählt haben musste. Die Maske wirkte, als wäre die Oberfläche des gesamten Kopfes vom Schädel abgewickelt worden. So fanden sich die Ohren nicht an den Enden des Gesichts, sondern weiter in der Mitte.
    Die Augen der Maske zogen Animaya in den Bann. Sie wirkten gleichzeitig zornig und traurig. Aus beiden hing eine Kette mit jeweils sieben Smaragden – die Maske weinte. War sie zornig über die Vergangenheit und traurig wegen der Zukunft? Oder anders herum?
    Animaya streckte die Hand aus, um die Tränen zu berühren. Da ging ein Ruck durch die einzelne Platte. Auf den Hölzern rollte sie eine Handbreit in den Würfel hinein. Aus dem Inneren ertönte ein gleichmäßiges Klopfen und Kratzen.
    Â»Das gibt’s doch nicht!« Natan klang mehr als beeindruckt. Er drehte sich um die eigene Achse. Jetzt, wo sich ihre Augen an das seltsame Spiel von Licht und Schatten gewöhnt hatten, sah es auch Animaya. Die Halle war gar nicht leer. Überall in der Halle, so weit das Auge reichte, lehnten identisch große Steinplatten an den Wänden. Es gab nur einen Unterschied zu den gestapelten: In diese Platten waren fingergroße Zeichen gehauen.
    Ratt, ratt . Wieder rutschte die Steinplatte ein paar Fußbreit in den Würfel.
    Â»In diesen Zeichen ist die gesamte Geschichte unseres Volkes festgehalten«, erklärte Pillpa mit Ehrfurcht in der Stimme. »Die Goldene Maske selbst meißelt sie in den Stein – da, im Inneren des Würfels. Wie sie das macht, weiß selbst der Inka nicht.«
    Ratt, ratt.
    Natan eilte an Animaya vorbei zu dessen Rückseite. »Hier kommt die Platte wieder heraus«, flüsterte er fasziniert.
    Animaya nahm einen Lumenkristall und stellte sich dicht hinter ihn.
    Â»Das sind ja Menschen«, staunte sie. »Die Goldene Maske schlägt Menschen in den Stein.« Andächtig betrachtete sie die Figuren.
    Â»Da bist du!«, platzte Natan heraus.

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