Der böse Wulff?: Die Geschichte hinter der Geschichte und die Rolle der Medien
Lammert, Andreas Voßkuhle, den
Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts, sowie Jens Böhrnsen, den
Bürgermeister von Bremen, der zu diesem Zeitpunkt den Vorsitz im
Bundesrat hat und dementsprechend das „Reserve-Staatsoberhaupt"
ist. Die Angerufenen reagierten verständnis- bis sprachlos. Westerwelle dachte zunächst an gesundheitliche Gründe. Einige Monate später
erzählt der Außenminister Journalisten auf einer Auslandsreise, er habe
Köhler in aller Ernsthaftigkeit gefragt: „Sind Sie krank, Herr Bundespräsident?"
Noch wochenlang rätselt das politische Berlin über die wahren
Gründe für Horst Köhlers Rücktritt. Die Vermutung, dass eine schwere Erkrankung bei Köhler oder in seiner Familie die Ursache für den
Entschluss ist, hält sich noch lange. Kaum jemand kann sich vorstellen,
dass die Kritik an seinen Interview-Äußerungen den Ausschlag gegeben haben soll. Horst Köhler bleibt die Erklärung schuldig, bis heute.
Im politischen Berlin löst Köhlers Entscheidung neben Rätselraten
deshalb vor allem Kopfschütteln aus. Der politische Betrieb hat überwiegend kein Verständnis für seinen Entschluss, hält sich mit Kritik
zunächst aber zurück. Die Entscheidung wird offiziell „mit Respekt"
zur Kenntnis genommen. Im Kanzleramt beeilt sich Angela Merkel,
nach Köhlers Erklärung ihrerseits eine Stellungnahme abzugeben. Sie
ringt sich ein paar Sätze der Anerkennung ab und sagt, sie sei „traurig",
schließlich hätten viele Bürger Köhler sehr geschätzt. Ihre Missbilligung bringt sie indirekt zum Ausdruck, indem sie feststellt, dass der
Bundespräsident diese Bürger „nun ein Stück weit enttäuscht" habe.
Erst vier Wochen später findet einer aus der ersten Reihe der Politik
deutliche Worte. Bei der Eröffnung der Bundesversammlung zur Wahl
von Köhlers Nachfolger macht Bundestagspräsident Norbert Lammert
seinem Herzen Luft, indem er feststellt, dass auch der Bundespräsident
kein Denkmal ist und Kritik ertragen muss. „Niemand steht unter
Denkmalschutz", sagt Lammert und spricht damit vielen im Plenum
aus der Seele. Das Medienecho auf Köhlers Rücktritt ist verheerend.
Die Süddeutsche Zeitung kommentiert, dass das Amt des Bundespräsidenten zwar ein „Glücksfall in der deutschen Geschichte" sei, „aber dieser Präsident war es nicht". Das Handelsblatt nennt Köhler einen
„Sonderling" und bezeichnet ihn als den politisch „Unbedarften" in der
Riege der Bundespräsidenten, in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung
ist von „Fahnenflucht" die Rede. Auf der Suche nach den tieferen Gründen für den Rücktritt heißt es in den Medien, Köhler sei seit Monaten
frustriert gewesen, auch von einer Entfremdung zwischen dem Bundespräsidenten und der Kanzlerin ist die Rede. In der Tat verzichtet
Merkel darauf, auch das wird in Berlin registriert, sich in die Debatte
über Köhlers Äußerungen zu Bundeswehr-Auslandseinsätzen einzumischen, und lässt den Dingen ihren Lau£ Mit anderen Worten: Köhlers
Rücktritt wird nicht zuletzt auch Merkel angelastet.
Schwarz-Gelb gegen Rot-Grün
ach dem Grundgesetz muss ein neuer Bundespräsident innerhalb von 30 Tagen gewählt werden. Das ist ohnehin nicht
viel Zeit, doch der „gefühlte" Zeitdruck ist noch viel größer.
Die schwarz-gelbe Koalition befindet sich in einem erbärmlichen Zustand. Das vermeintliche Traumpaar belegt sich gegenseitig und öffentlichkeitswirksam mit Kosenamen wie „Wildsau" und „Gurkentruppe", die Zeichen stehen auf Scheidung. Vor allem bei der FDP ist
die Enttäuschung über den Koalitionspartner riesig. Die Liberalen
fühlen sich von der Union betrogen, das gemeinsame bürgerliche Projekt, auf das die FDP jahrelang hingearbeitet hat, findet in ihrer Wahrnehmung nicht statt. Aus Sicht der FDP macht Angela Merkel weiterhin Politik wie zu Zeiten der großen Koalition, nur dass sie anstelle
der SPD jetzt die Liberalen an Bord hat. Die schwarz-gelbe Koalition
befindet sich im Frühjahr 2010 im wohl größten Stimmungstief ihres
Bestehens. „Aufhören!" titelt der Spiegel Mitte Juni, zwei Wochen nach
Köhlers Rücktritt, und drückt damit wohl ziemlich treffend aus, was
die überwiegende Zahl der Menschen denkt. Im Mai ergibt der ARDDeutschlandtrend von Infratest dimap, dass zwei Drittel der Befragten finden, Union und FDP passen nicht mehr zusammen. Vor diesem
Hintergrund nehmen Angela Merkel und Guido Westerwelle den
Rücktritt Köhlers als existenzielle Bedrohung für das
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