Das Werk - 14
Kapitel I
Claude ging gerade am Hôtel de Ville1 vorbei, und von der Turmuhr schlug es zwei Uhr morgens, als das Gewitter losbrach. Als Künstler, der Zeit zum Umherschlendern hatte, war er verliebt in das nächtliche Paris, und er hatte sich in dieser brennendheißen Julinacht beim Herumbummeln in den Markthallen verweilt. Jäh fielen die Tropfen, so reichlich, so dicht, daß er anfing zu rennen und mit schlotterigen Beinen bestürzt den Quai de la Grève entlanggaloppierte. Aber zornig darüber, daß er so außer Atem geriet, blieb er bei der Pont LouisPhilippe stehen: er fand diese Angst vor dem Wasser dumm; und in der dichten Finsternis ging er unter dem Peitschen des Platzregens, der die Gaslaternen ertränkte, langsam mit baumelnden Händen über die Brücke.
Übrigens hatte er nur noch ein paar Schritte zu gehen. Als er über den Quai de Bourbon auf die Ile SaintLouis2 einbog, beleuchtete ein greller Blitz die gerade und ebene Linie der alten, vornehmen Häuser, die sich längs der Seine am Rande des schmalen Fahrdamms aneinanderreihten. Der Widerschein setzte die Scheiben der hohen Fenster, die keine Jalousien hatten, in Brand, man sah die Großartigkeit und Traurigkeit der altertümlichen Fassaden, sehr deutlich waren Einzelheiten zu erkennen, ein steinerner Balkon, das Geländer eines Altans, das gemeißelte Blumengewinde an einer Giebelwand. Hier hatte der Maler sein Atelier, oben unter dem Dach des ehemaligen Hôtel du Martoy an der Ecke der Rue de la Femmesans Tête. Der Quai, den man gerade einen Augenblick sehen konnte, war sogleich wieder in Finsternis zurückgesunken, und ein furchtbarer Donnerschlag hatte das eingeschlafene Stadtviertel erschüttert.
Vor einer Haustür, einer runden, niedrigen alten Tür mit Eisenbeschlägen, angekommen, tastete Claude, der vor Regen nicht sehen konnte, suchend nach dem Knauf der Klingelschnur; und er war aufs äußerste überrascht und zuckte zusammen, als er in der Mauernische auf einen lebendigen Leib stieß, der sich dicht an das Holz preßte. Im jähen Licht eines zweiten Blitzes erblickte er dann ein großes, schwarzgekleidetes junges Mädchen, das bis auf die Haut naß war und vor Angst am ganzen Leibe zitterte. Als der Donnerschlag sie beide durchgerüttelt hatte, rief Claude:
»Na, darauf war ich nicht gefaßt … Wer sind Sie denn? Was wollen Sie denn hier?«
Er konnte sie nicht mehr sehen, er hörte nur, wie sie schluchzte und stammelte:
»Oh, mein Herr, tun Sie mir nichts … Der Kutscher, den ich mir am Bahnhof genommen habe, der hat mich hier an dieser Tür im Stich gelassen und hat sich Grobheiten herausgenommen … Ja, ein Zug ist in der Gegend von Nevers entgleist. Wir hatten vier Stunden Verspätung, und ich habe die Frau nicht mehr gefunden, die mich am Bahnhof erwarten sollte … Mein Gott, ich bin zum ersten Mal in Paris, mein Herr, ich weiß nicht, wo ich bin …« Ein greller Blitz schnitt ihr das Wort ab; und ihre weit aufgerissenen Augen schauten verstört auf diese Gegend der unbekannten Großstadt, die blaßviolette Vision einer phantastischen Stadt.
Es hatte aufgehört zu regnen. Auf der anderen Seite der Seine reihte der Quai des Ormes seine kleinen grauen Häuser aneinander, die durch die Holzschilder der Läden unten bunt gescheckt waren und deren ungleiche Dächer sich oben scharf voneinander abhoben, während sich der weiter gewordene Horizont links bis zu den blauen Schieferdächern der Giebel des Hôtel de Ville und rechts bis zur bleiernen Kuppel der Kirche SaintPaul aufhellte. Was ihr aber vor allem den Atem verschlug, war das Flußbett, der tiefe Graben, in dem die Seine an dieser Stelle schwärzlich vorüberfloß, von den wuchtigen Pfeilern der Pont Marie bis zu den schwerelosen Bögen der neuen Pont LouisPhilippe. Seltsame Massen bevölkerten das Wasser, eine schlafende Flottille von Ruderbooten und Jollen, ein Waschschiff und ein Baggerschiff, die vertäut am Quai lagen; drüben am anderen Ufer dann Flußkähne voll Kohle, mit Mühlsteinen beladene Zillen, die der riesige Arm eines Eisenkrans überragte. Alles verschwand.
Na, die spinnt was zusammen, dachte Claude, irgendeine Nutte, die man auf die Straße gesetzt hat und die einen Mann sucht. Er traute der Frau nicht: diese Geschichte von der Entgleisung, von der Zugverspätung, von dem groben Kutscher kam ihm wie eine lächerliche Schwindelei vor.
Das junge Mädchen hatte sich beim Donnerschlag erschreckt in den Türwinkel gepreßt.
»Sie können sich doch da
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