Der Boss
nämlich Allergiker.«
Nachdem Mark und ich uns mit Cola und Tortilla-Chips eingedeckt haben – trotz zahlreicher Hinweise meiner Mutter bezüglich künstlicher Zusatzstoffe in Käsedips sowie versteckter Zuckermassen in Erfrischungsgetränken –, stehen wir gerade am Einlass von Kino 4, als ich eine sehr laute Stimme deklamieren höre:
»Halt! Wartet auf uns!«
Ingeborg Trutz kommt in einem schwarzen Fellmantel gespielt atemlos auf uns zugelaufen, während Dimiter Zilnik, gemächlichen Schrittes eine Zigarre paffend, hinter ihr hertrottet. Meine Mutter jubelt:
»Ingeborg! Dimiter! Wir dachten, ihr wollt nicht kommen?!«
Ingeborg legt die Hand auf ihr Herz und redet in Auch-die-letzte-Reihe-muss-mich-verstehen-können-Lautstärke auf uns ein:
»Wir hatten gerade eine Probe, so intensiv, sooo innntennnsiiiiiiiv! Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie intensiv. Du, ich zittere immer noch. Dimiter hat mich in Romeo und Julia als gealterte Prostituierte besetzt, und ich sollte meine Trauer über die brutale Sowjet-Herrschaft im ehemaligen Jugoslawien in einen Wutanfall packen – du, es hat mich geschüttelt. Ge-schüt-telt, sag ich dir!«
Ich bin irritiert:
»Äh, wo kommt denn in Romeo und Julia eine gealterte Prostituiere vor?«
»Na, die gealterte Prostituierte ist natürlich Julia.«
»Natürlich.«
»Dimiter hat das Stück umgeschrieben.«
Dimiter Zilnik drückt gerade auf Anweisung der Kartenabreißerin seine Zigarre aus, zelebriert einen knapp dreißigsekündigen Hustenanfall und nuschelt dann in gedämpfter Lautstärke vor sich hin (deutlich redet er erst ab 1,5 Promille).
»Ich habe mich auf den Hass zwischen den Familien konzentriert und das Ganze ins serbische Knin des Jahres 1991 versetzt. Den ganzen romantischen Kitsch habe ich eliminiert.«
So und nicht anders kenne ich Dimiter Zilnik. Deshalb erstaunt es mich umso mehr, dass er sich Ice Age 3 angucken will:
»Dimiter, äh … bist du sicher, dass du einen Hollywood-Mainstream-Animationsfilm ansehen willst?!«
Ingeborg Trutz antwortet für ihn:
»Natürlich. Dimiter ist offen für die Populärkultur.«
Dimiter Zilnik zuckt mit den Schultern.
»Eigentlich wollte ich während des Films schlafen und anschließend im ›Le Moissonnier‹ einen Cognac aus dem Jahr 1848 trinken …«
Ingeborg Trutz ergänzt:
»… Schlechter Jahrgang für Revolutionen, aber ausgezeichnet für Weinbrände.«
Kurz darauf sitze ich mit dem Arm um Aylin in Reihe 8. Als das Licht ausgeht und der erste Werbespot erscheint, wird mein Vater unruhig. Nach einer halben Minute brüllt er nach hinten:
»Schärfer! SCHÄRFER !«
Meine Mutter öffnet ihre Handtasche und reicht ihm eine Brille, dank der er jetzt verblüfft feststellt, dass das Bild bereits scharf ist. Der Saal lacht – und ich bin froh, dass Dimiter Zilnik und Ingeborg Trutz ein paar Reihen hinter uns sitzen, sodass der Schall von Dimiters blechernem Husten vom Schmatzen zweier übergewichtiger Nerds in Spongebob-T-Shirts übertönt wird, die sich eine Giga-Packung Popcorn und vier Portionen Käse-Nachos teilen. In einer kurzen Schmatzpause kriege ich mit, dass Dimiter Zilnik bereits während eines Trailers für Harry Potter und der Halbblutprinz in die erste REM – Tiefschlafphase geraten ist und irgendwelche unverständlichen Brocken vor sich hin murmelt. Mein Vater beugt sich zu mir:
»Basiert Harry Potter eigentlich auf der Idee von Goethes Zauberlehrling ?«
»Keine Ahnung. Aber ich bin froh, dass Dimiter Zilnik nicht Regie geführt hat – sonst wäre Lord Voldemort wahrscheinlichein serbischer Kriegsverbrecher und Dumbledore eine Prostituierte.«
»Aber klingt doch unheimlich interessant, was Dimiter aus Romeo und Julia macht. Ich bin schon gespannt auf die Premiere.«
Meine Mutter wendet sich an Aylin:
»Deine Eltern müssen unbedingt kommen – sie kennen Ingeborg ja jetzt auch, und sie haben sie noch nie auf der Bühne gesehen.«
Das letzte Mal, als ich Ingeborg Trutz auf der Bühne gesehen habe, hat sie sich als Gretchen mit Theaterblut das Wort »Gott« auf die nackten Brüste geschrieben – eine typische Dimiter-Zilnik-Inszenierung. Ich bin sicher, dass wir derartige kulturelle Erfahrungen nicht mit Familie Denizo ğ lu teilen sollten, und versuche deshalb, Aylin mit panischem Blick und heftigem Kopfschütteln zu stoppen. Vergeblich.
»Au ja – ich sage Anne und Baba Bescheid. Sie freuen sich bestimmt.«
Hervorragend. Jetzt darf der neue Hochzeitstermin auf gar
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