Der Boss
Redensart?«
»Ja.«
»Gut, dann werde ich die dicke Bohne mal … Also, ich fand es wirklich lieb von dir, aber … in Deutschland geht man nicht zusammen mit Freunden und Eltern ins Kino.«
»Aber ich dachte, du liebst deine Eltern.«
»Ja, sicher. Und meine Freunde liebe ich auch. Aber gerne an verschiedenen Orten.«
»Warum?«
»Du hast doch gesehen, was passiert ist.«
»Ja. Deine Eltern hatten unheimlich viel Spaß.«
»Exakt das ist der Punkt. Meine Eltern hatten Spaß. Und ich glaube, Ingeborg und Dimiter haben sich auch ganz gut amüsiert.«
»Ja. Obwohl Dimiter in die Nase trinkt und nicht in den Mund.«
»Wie, in die Nase?!«
»Sagt man doch, wenn jemand zu viel trinkt: Er trinkt in die Nase und nicht in den Mund.«
»Ach so. Nein, wir sagen: Er hat über den Durst getrunken … Kann es sein, dass du türkische Redensarten benutzt, um mich vom Thema abzulenken?«
Aylin grinst.
»Aylin, weißt du, ich habe es gerade mithilfe meiner Therapeutin geschafft, meinen Eltern Grenzen zu setzen …«
»Grenzen? Wofür?«
»Na ja, man muss seinen Eltern doch Grenzen setzen.«
»Aber wozu soll das gut sein?«
»Na ja, damit sie sich nicht einmischen.«
»Worein?«
»In mein Leben.«
»Aber sie sind deine Eltern.«
»Ja und?«
»Eltern mischen sich immer ein.«
»Es sei denn, man setzt Grenzen.«
»Das hört sich irgendwie sehr deutsch an. Grenzen setzen.«
»Das sind die beiden Vorteile der deutschen Kultur: Du fährst nicht über Rot, und du setzt deinen Eltern Grenzen. Beides kann dein Leben retten.«
Aylin sagt nichts mehr, sondern schaut stumm aus dem Fenster. Sie ist enttäuscht. Das geht natürlich nicht. Diesen Zustand muss ich aber mal ganz schnell beenden.
»Äh, Aylin, ich habe gerade noch mal drüber nachgedacht, und dabei ist mir die Erkenntnis gekommen, dass der Abend in Wirklichkeit doch unheimlich toll war. Ich war seit über zehn Jahren nicht mehr mit meinen Eltern im Kino, und irgendwie hat es was. Und du hast recht, sie haben sich unheimlich gefreut.«
»Daniel, du bist soooooo süß.«
»Bin ich?«
»Ja. Das ist so lieb von dir, dass du mich anlügst.«
Ich habe immer noch Probleme, die orientalische Logik zu verstehen. Eine Lüge scheint selbst dann noch okay zu sein, wenn sie durchschaut wird. Irgendwie ist wohl alles besser als die Wahrheit. Egal, Aylin lächelt wieder, das ist die Hauptsache. Und wenn sie meine Eltern noch mal anschleppt … dann kann ich mir immer noch überlegen, wie ich reagiere.
Eine knappe halbe Stunde später liege ich bei Kerzenschein in meinem Bett. Neben mir, auf dem Nachttisch, stehen zwei Gläser Rotwein, und ich warte darauf, dass Aylin aus dem Bad kommt. Ich habe mein Handy abgeschaltet und Aylin hat ihr iPhone auf lautlos gestellt – eine Handlung, die von einigen Familienmitgliedern bestimmt als Verrat an der türkischen Kultur interpretiert würde.
Kerzenlicht, Rotwein … Irgendetwas fehlt. Ach ja, Musik. Ich gehe zum CD – Player und lege die Kuschelrock 7 ein, die mir Mark mit den Worten »Falls der unwahrscheinliche Fall eintreten sollte, dass du eine Frau abschleppst« zum 20. Geburtstag geschenkt hat. Dann fällt mir ein, dass meiner ersten Freundin Melanie beim Lied Forever Young von Alphaville nach einer Niesattacke ein halbes Gummibärchen aus dem linken Nasenloch rutschte, und ich entscheide mich spontan um und wähle die Kuschelklassik Piano Dreams 2 , die ich mal um drei Uhr nachts betrunken bei Amazon bestellt habe, zusammen mit den ersten drei Staffeln Frasier und einer Sigmund-Freud-Action-Figur aus Plastik.
Als die ersten zarten Klänge der Earth-Song – Klassikklavierversion ertönen, genieße ich den Duft von Aylins Duschgel, der aus dem Bad kommt, und lasse die schummrig-romantische Atmosphäre auf mich wirken. Die so schummrig-romantisch ist,dass mir das blinkende Display von Aylins iPhone sofort ins Auge fällt. Der Name ›Abdullah Amca‹ wird angezeigt. Warum ruft er nach Mitternacht an? Will er etwa doch noch zurückkommen? Nein, ich lasse mir nicht noch ein zweites Mal von Aylins Familie die Erotik vermiesen. Ich drehe das iPhone um. Trotzdem kann ich erkennen, dass es weiter blinkt. Ich lege ein Kissen drauf.
Jetzt fühle ich mich als schlechter Mensch, weil ich Onkel Abdullahs Anruf geheim halte. Das darf doch nicht wahr sein! Haben wir denn kein Recht auf Privatsphäre? Als wäre es unsere staatsbürgerliche Pflicht, jederzeit Gewehr bei Fuß zu stehen, wenn irgendein Familienmitglied
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