Der Boss
die ungläubigen Blicke von Ingeborg Trutz und Dimiter Zilnik gar nicht bemerkt. Dimiter Zilnik fragt sich wahrscheinlich gerade, ob er LSD in der Zigarre hat, denn in einem normalen Bewusstseinszustand hat er solche Farben sicher noch nie erlebt. (Die grellste Kulissenfarbe, die ich jemals in einer seiner Theaterinszenierungen gesehen habe, war ein schimmelartiges Graubraun.) Ingeborg Trutz hingegen stellt ihren persönlichen Rekord im Nichtsprechen auf und zündet sich nervös eine Roth-Händle an, die sie stets mit einer schwarzen Zigarettenspitze raucht, wie Audrey Hepburn in Frühstück bei Tiffany’s . Ich möchte Frau Denizo ğ lu beglückwünschen: Sie hat Ingeborg Trutz tatsächlich zum Schweigen gebracht – das ist Dimiter Zilnik in über dreißig Jahren nicht gelungen.
Endlich hat Aylins Mutter einen geeigneten Platz gefunden: auf der abstrakten Steinplastik von Alfons Kunen.
»Vallaha, hier sieht super aus.«
Meine Eltern stehen mit immer noch schreckgeweiteten Augen in der Tür. Aber Frau Denizo ğ lu hat ihren Eingriff in die klassische Moderne noch nicht abgeschlossen:
»Platz ist vallaha sehr gut, nur Stein ist bisschen hässlich. Keine Angst, kaufe ich eine schöne Stoff oder Tüll, dann sieht besser aus.«
Die Stimme meiner Muter nimmt jetzt einen flehenden Tonfall an:
»Das ist wirklich nicht nötig.«
»Keine Widerrede, ich mache gerne.«
Aylin scheint sich noch nicht entschieden zu haben, ob sie sich für ihre Mutter schämen oder vom Kunstgeschmack meiner Eltern befremdet sein soll. Ihr Blick haftet an einem hässlichen rotbraunen Geschmiere (meine Einschätzung) beziehungsweise einem unheimlich intensiven Farberlebnis (Wahrnehmung meiner Eltern). Das Bild dominiert allein schon aufgrund seiner Größe von 2,30 × 3,50 Metern das Wohnzimmer. Herr Denizo ğ lu scheint von diesem Werk ähnlich erfreut wie von der Idee eines freien Kurdistan – und seine Frau überlegt vermutlich gerade, wie viele Pailletten man braucht, um die gesamte Fläche zuzukleben. Aber ich kenne die türkische Mentalität inzwischen gut genug und kann meiner Familie in spe eine Brücke zur klassischen Moderne bauen:
»Das Bild ist über 10 000 Euro wert.«
Zur Abscheu in den Augen der Denizo ğ lus gesellt sich jetztRespekt. Immerhin ein Anfang.
In einer Übersprunghandlung begrüßt Aylins Mutter Ingeborg Trutz und Dimiter Zilnik mit Wangenküsschen, was diese regungslos über sich ergehen lassen.
Als Frau Denizo ğ lu meine Oma entdeckt, ist sie völlig aus dem Häuschen:
»Aaaaaaah, ist deine Oma?! Vallaha, ist unheimlich süß, Allah, Allah, sehr süß deine Oma, Daniel, guck doch mal, ist soooo süüüüß hahahaha.«
Jetzt gibt sie auch Oma Berta Wangenküsschen, was bei dieser großes Befremden auslöst. Sie ist selbst für eine Westfälin noch überdurchschnittlich distanziert – die zärtlichste Geste, die ich von ihr je erlebt habe, war, als sie meinem Vater zum Abschied kurz auf die Schulter geklopft hat. (Vielleicht hat sie auch nur nach einer Fliege geschlagen.) Auf jeden Fall wird diese Frau, die seit dem Tod meines Opas vor dreißig Jahren bis auf das Schütteln von Händen keinerlei Hautkontakt mit anderen Menschen hatte, jetzt von Frau Denizo ğ lu in beide Wangen gekniffen, gleichzeitig herzhaft auf die Stirn geküsst und anschließend so fest gedrückt, dass sie nach Luft schnappt.
Aylin lässt sich von der Begeisterung ihrer Mutter anstecken und drückt meine Oma, die sich gerade noch von der ersten Umarmung erholt, ebenfalls an sich und küsst sie zunächst auf die Hand, dann auf beide Wangen. Damit hat sich die körperliche Zuwendung, die meine Oma in den vergangenen dreißig Jahren erhalten hat, innerhalb von 25 Sekunden verhundertfacht. Irritation ist eine extreme Untertreibung für das, was sich jetzt im Gesicht meiner Oma spiegelt.
»Wer sind diese Menschen? Und was wollen sie von uns?«
»Das sind meine Verlobte Aylin und ihre Mutter.«
»Und warum begrabbeln sie mich?«
»Das ist eine türkische Tradition.«
»Was? Das sind Türken?«
»Ja.«
»Und was machen die hier in Deutschland?«
»Na, die leben hier.«
»Wie? Haben die uns etwa besiegt? Das hat mir keiner gesagt.«
Zur Abwechslung ist mir jetzt mal meine Oma peinlich.
»Oma, die Türken sind nicht unsere Feinde.«
»Und warum besetzen sie dann unser Haus?«
»Oma, die …«
»Und wozu steht im April noch der Weihnachtsbaum im Wohnzimmer? Wir sind doch hier nicht bei den Hottentotten!«
In
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