Der Boss
diesem Moment stellt Frau Denizo ğ lu unter Beweis, dass Türken die schöne Gabe besitzen, um des lieben Friedens willen die Realität schlicht zu ignorieren:
»Daniel, vallaha, deine Oma ist wirklich unheimlich süß – Allah, Allah …«
Dieses Ausblenden der Realität praktizieren die Denizo ğ lus auch bei ihrem eigenen Sohn: Sie wissen eigentlich, dass Cem homosexuell ist, aber weil es ja keine schwulen Türken gibt, kann das gar nicht sein, und dann ist es auch nicht so.
Im selben Moment, als Frau Denizo ğ lu meiner überforderten Oma erneut in beide Wangen kneift, überreicht Herr Denizo ğ lu meinem Vater eine verpackte CD . Ich ahne schon, dass es sich eher nicht um die größten Erfolge von Wolf Biermann oder ein Hörbuch von Peter Sloterdijk handeln wird. Als ich Heinos Brille sehe, wird meine Ahnung bestätigt: Deutsche Weihnacht – Heino und Hannelore singen die schönsten Lieder zum Fest .
Jetzt sehe ich meine Chance, mich für die vielen Freejazz-Konzerte zu rächen, zu denen mich meine Eltern in meiner Jugend mitgeschleppt haben:
»Also, ich finde, die CD sollten wir sofort auflegen.«
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5
Noch zehn Minuten weniger bis zur Hochzeit als eben.
Nachdem Heinos Interpretation von Kommet ihr Hirten es geschafft hat, den Nichtsprech-Rekord von Ingeborg Trutz um weitere drei Minuten zu verlängern, platzt es dann doch aus ihr heraus, als Hannelore die ersten Töne von Lasst uns froh und munter sein anstimmt:
»Das ist unerträglich. Keiner interessiert sich mehr für Bertolt Brecht, die Erde stirbt, auf Fuerteventura verhungern die Katzen – und wir sollen froh und munter sein. Ich glaube, ich kriege einen Migräneanfall. Hach, da ist er schon.«
Sofort zückt Frau Denizo ğ lu ihre Aspirinschachtel:
»Hier, nehme Sie. Hilft auch sehr gut gegen Hautproblem.«
»Danke, aber mir würde schon reichen, wenn diese grauenhafte Musik aufhörte.«
Mein Vater stoppt die CD , und auch Familie Denizo ğ lu scheint erleichtert – so gruselig hatten sie sich deutsche Weihnachtsmusik wahrscheinlich gar nicht vorgestellt. Eine peinliche Pause entsteht. Dann zeigt Oma Berta auf die Denizo ğ lus:
»Sind das die Russen, die sie bei uns einquartiert haben?«
Eine weitere peinliche Pause entsteht. Dann stupst meine Mutter meinen Vater an, der sich schnell erhebt und einen weißen Zettel aus seiner Hemdtasche holt. Das bedeutet Unheil: Er wird eine seiner gefürchteten Reden halten. Ich suche nach Fluchtgelegenheiten. Aylin seufzt. In einem Wer-schämt-sich-am-meisten-für-seine-Familie-Contest hätten wir jetzt ein enges Kopf-an-Kopf-Rennen. Aber ich fürchte, die Rede meines Vaters wird meinen Sieg bedeuten.
Er räuspert sich. Stille. Er räuspert sich erneut. Stille. Und noch einmal. In diesen Momenten bastelt er sich im Kopf aus den Stichworten den ersten Satz seiner Rede zusammen. Ein erneutes Räuspern, gefolgt von gut zehn Sekunden Pause und einem finalen Start-Räuspern, dann geht es los:
»Liebe Berta, liebe Erika, lieber Daniel, liebe Ingeborg, lieber Dimiter, liebe Aylin, lieber …«
Ihm fällt der Name von Aylins Bruder Cem nicht ein.
»… lieber …«
Er räuspert sich. Ich helfe ihm:
»Cem.«
»… lieber Cem. Und äh, liebes Ehepaar Denizo ğ lu. Dass wir heute gemeinsam Weihnachten feiern, erscheint mir ein wenig surreal, aber ich sehe darin auch eine gewisse Ironie.«
Ich sehe in den Gesichtern von Aylins Eltern, dass sie die Worte »surreal« und »Ironie« zum ersten Mal in ihrem Leben hören.
»… denn schließlich messen weder die Hagenbergers und ihre Freunde als Agnostiker noch die Denizo ğ lus als Vertreter der muslimischen Glaubensgemeinschaft der Geburt Christi eine größere Bedeutung bei. Und doch haben wir uns heute hier versammelt, um gemeinsam Jesu Geburtstag zu feiern.«
Frau Denizo ğ lu ist irritiert:
»Wer hat Geburtstag?«
Wie aus der Pistole geschossen antwortet Oma Berta:
»Der Führer.«
»Nein, Mutter. Jesus Christus.«
»Das kann gar nicht sein. Dann wäre ja Weihnachten.«
Frau Denizo ğ lu hakt noch einmal nach:
»Also Weihnachten ist Geburtstag von Jesus?«
Mein Vater erlebt seine glücklichsten Momente, wenn er Wissen weitergeben kann:
»Exakt. Weihnachten ist im Prinzip nichts anderes als eine Geburtstagsfeier. Mit der kleinen Abweichung, dass das Geburtstagskind schon tot ist.«
Oma Berta ist irritiert.
»Der Führer ist tot?«
»Der auch. Aber ich rede von Jesus Christus.«
»Das stimmt gar nicht. Jesus lebt. Haben
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