Der Briefwechsel Thomas Bernhard/Siegfried Unseld
Deutschland. Die Oberfläche ist eine enervierend-gemeine, unter welcher sich eine ungeheuere Körper- und Geisteskatastrophe anzukündigen scheint. Der Verrat ist in allen Köpfen und in allem, worauf diese Köpfe sich zu existieren getrauen, ein vollkommener.
Die Revolutionäre als Intelligenzler oder Intelligenzler als Revolutionäre (das alles ist nichts als zum speien!) überfressen sich in den chinesischen und jugoslawischen und italienischen Restaurants. Das ganze ist abstossend, weil es in Deutschland ist.
Mit sehr herzlichen Grüssen Ihr
Thomas B.
Bitte lassen Sie Anfragen, ob ich irgendwo vorlese, gleich wo, damit beantworten, dass ich das Vorlesen hasse und nicht mehr vorlese.
|P. S.| In den »Kalkwerks«-Vertrag wie in alle andern Verträge, alle bisherigen, muss ein Passus hinein, dass sie mit sofortiger Wirkung ihre Gültigkeit verlieren, wenn der Verlag nicht mehr von Ihnen persönlich geleitet wird oder wenn er in andere Hände übergeht. Insoferne sind sämtliche Verträge abzuändern, möglicherweise ist das durch die Post zu machen, sonst muss ich Sie bitten, mit mir einmal irgendwo, wann es Ihnen leicht fällt, im Gebirge zusammenzukommen.
[134; Anschrift: Ohlsdorf]
Frankfurt am Main
3. November 1970
Lieber Herr Bernhard,
ich bestätige Ihren Brief vom 27. Oktober. Welche Erfahrungen müssen Sie auf dieser Deutschlandreise gemacht haben! Hat Sie Hamburg so enttäuscht? Ich hatte nicht den Eindruck, daß die Vorgänge in Darmstadt oder Frankfurt Sie zu solchen Erfahrungen bringen könnten. 1
Nun zu der Vertragsfrage: ich würde gerne bald mit Ihnen darüber sprechen, aber es ist zeitlich einfach unmöglich. Ich bin sicher, daß ich Sie, lieber Herr Bernhard, in einem ruhigen Gespräch von der Richtigkeit der Vertragspunkte überzeugen könnte, für jetzt sollte doch gelten, daß wir diesen Vertrag haben, dessen Bedingungen wir gemeinsam sinnvoll anwenden werden. Außerdem sind die Bücher »Watten« und »Kalkwerk« ja erschienen, sie machen ihren Weg in der Öffentlichkeit ganz unabhängig von dem, was wir in die Verträge aufgenommen haben. Bitte, haben Sie also Vertrauen. Wir machen nach unseren Kräften das Beste daraus.
Wenn wir uns das nächste Mal treffen und wenn wir wieder einen Vertrag miteinander machen werden, können wir gerne über eine solche Klausel sprechen, daß die Verträge an mich persönlich gebunden sind.
Wann darf ich die Manuskripte »Midland« erwarten? Allmählich wird es ja doch dringlich.
Wie ich Ihnen schon schrieb, ist die Nachfrage nach dem »Kalkwerk« gut und anhaltend. Wir drucken jetzt eine 2. Auflage. Ich hoffe, daß Sie das freut.
Schöne Grüße
Ihr
Siegfried Unseld
1 Die Verleihung des Büchner-Preises an Th. B. stößt z. B. in der Zeit auf Kritik. Gleich zwei Artikel auf einer Seite (23. Oktober 1970, S. 25) gehen auf die Preisübergabe ein: Rudolf Walter Leonhardt (leo) urteilt in Anmerkungen zur Integrität : »Gewiß hat Thomas Bernhard sein Recht auf seine Meinung. So aberwitzig verdreht seine Ansichten denen erscheinen mögen, welche Wörter mit all ihrer Fragwürdigkeit zu schätzen wissen als, trotz allem, Medium der Kommunikation, der Information, des Menschenmöglichen – Thomas Bernhard treffe kein Vorwurf. Aber was ficht die mißbrauchten Mißbraucher an, im Namen der deutschen Sprache und Dichtung feierlich zu erklären: Preis sei Thomas Bernhard?« Dieter E. Zimmer überschreibt seine Kritik an Autor wie Akademie mit Hurra, wir gehen unter! Wie Verzweiflung durch Beifall unglaubwürdig wird : »Eine Preisvergabe an Thomas Bernhard aber bringt zwei völlig inkommensurable Systeme zusammen. Thomas Bernhard feiern heißt ihn verachten oder zeigen, daß man ihn nicht verstanden hat. Es heißt: so ernst kann er es nicht gemeint haben. Und daß ein Autor wie Bernhard das Spiel mitspielt, heißt: so ernst habe ich es nicht gemeint. – Daß wir alle erbärmlich, unzurechnungsfähig, verrückt seien, und nichts anderes sagt Bernhard in seinem Werk immer wieder, nichts anderes sagte er auch in seiner Darmstädter Dankesrede – das ist eine vielleicht nur zu wahre Erkenntnis, aber eine, die sich schlechterdings nicht beklatschen oder auszeichnen läßt. Und wenn sie Applaus bekommt und Applaus duldet, so nimmt sie sich selber zurück und hat folglich keinen Applaus verdient.«
[135]
Ohlsdorf
4. 11. 70
Lieber Dr. Unseld,
Sie haben meinen in der Vorwoche an Sie abgeschickten Brief noch nicht beantwortet,
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