Der Briefwechsel Thomas Bernhard/Siegfried Unseld
die Schwierigkeit ist mir klar, wahrscheinlich habe ich Sie vor den Kopf gestossen; eine merkwürdige Deprimation, die ganz und gar politisch ist, hat sich mir nach meiner Rückkehr, aber schon in Hamburg bemächtigt gehabt, alles restlos zu verschweigen, ist mir nicht gelungen, so haben Sie eine unangenehme Lektüre aus Österreich gehabt. Was unser Zusammentreffen angeht, erinnere ich mich gern und vor allem Ihrer Frau will ich heute für ihre vielen Aufmerksamkeiten mir und meiner Tante gegenüber danken, es war ja mehr eine Geburtstagsreise einer alten Dame, als die Fahrt eines unnachgiebigen Schriftstellers durch ein Deutschland der Missverständnisse.
Der Kopf ist klar, die Gedanken haben in die Zahnräder ihrer Umwelt eingreifen können, die Arbeit geht weiter und sie macht mir, das ist das Unsinnigste, weil sie sich durch mehr und mehr Vereinfachung mehr und mehr kompliziert, das Vergnügen des beinahe Vierzigjährigen, der einen neuen Anlauf genommen hat, es ist das Vergnügen des Kunstgehirns.
Was unsere Verträge anbelangt, ist absolut eine ruhige Durchsicht aller Papiere erforderlich, das geht nicht zwischen zwei Zügen, mit Recht ist mir die Spontaneität dabei verdächtig.
Am »Midland« mache ich Korrekturen, wenige, die aber der Sache nützlich sind, wir wollen ja ein einwandfreies, von uns aus einwandfreies Buch herausgeben.
Ende November haben Sie das Ganze in der Hand.
In den nächsten Tagen schicke ich eine Inhaltsangabe für »Atzbach« an Günther Busch. 1
Die Papierfabrik wird ausgeleuchtet, es wird ein komisches Buch, nicht weniger schwierig.
Die Wut und die Brutalität gegen alles kann durchaus von einer Stunde auf die andere in alle Gegenteile umschlagen.
Dass die Kritiker an Verblödung leiden, ist kein Grund, den Schritt in der eingeschlagenen Richtung, gleich in welcher Richtung, zu verlangsamen.
Die englische, amerikanische »Verstörung« ist ein herrliches Buch und macht Freude.
Wieviel »Kalkwerke« haben Sie bis heute verkauft?
Herzlich Ihr
Thomas B.
1 Am 14. November 1970 sendet Th. B. seinen Vorschautext für Atzbach. Vorschriften an Thomas Beckermann:
»Nach und nach und mit seiner Lebens- und Sterbensgeschwindigkeit intensiver beweist sich der in das Arbeitshaus Atzbach neueingewiesene Handlanger und Gewohnheitsverbrecher Schmöll an Hand aller Vorkommnisse mit der grössten Genauigkeit, dass die Welt und in jedem Falle immer die unmittelbare Umwelt des einzelnen, nicht allein aus Natur- und Begriffsmaterie, sondern für jeden Denkenden, sich folgerichtig zu denken Getrauenden am Ende doch nur aus Vorschriften, aus einer beschämenden und erschütternden Unendlichkeit menschlicher und also unmenschlicher und also menschenunwürdiger Vorschriften und aus solchen menschenunwürdigen Vorschriften von Vorschriften besteht. Für Schmöll ist die Welt eine Vorschriftswelt und die Menschen sind Vorschriftsmenschen, alles in ihr und alles in ihnen ist Vorschrift. Schnöll sagt nicht (weil er sich das Sagen abgewöhnt hat), denkt aber: alles ist Vorschrift und denkt damit: alles ist unerträglich.« Im Begleitbrief heißt es: »[. . .] hoffentlich genügt Ihnen diese kurze Notiz. Es ist mir aber unmöglich, mehr zu sagen. Was ihr fehlt, ist die Tatsache, dass ›Atzbach‹ aus lauter Unerträglichkeit komisch ist.«
[136; Anschrift: 〈Ohlsdorf〉]
Frankfurt am Main
6. November 1970
Lieber Thomas Bernhard,
ich bedanke mich sehr herzlich für Ihren Brief vom 4. November, ich freue mich, daß Sie diesen Brief noch nachgereicht haben. Ich bin mir sicher, daß wir uns im Grunde verstehen, wir werden bei nächster Gelegenheit in Ruhe diese Dinge durchsprechen.
Ich verstehe gut, daß Sie irritiert worden sind. Unsere politische Landschaft ist im Augenblick alles andere als einladend oder gar hoffnungsvoll. Man hat manchmal den Eindruck, als bahne sich unterirdisch irgendeine Katastrophe an. Nun, wir werden sehen. Das einzige, was wir tun können, ist, unsere Arbeit so gut wie nur möglich zu leisten.
Deshalb freut es mich auch, daß Sie mit guter Intensität beim Schreiben sind. Über das »Vergnügen des beinahe Vierzigjährigen« müssen wir uns einmal unterhalten. Wo werden Sie übrigens am 9. 2. 1971 sein?
»Midland« erwarte ich also Ende dieses Monats.
Ich grüße Sie herzlich,
Ihr
Siegfried Unseld
P. S.: Ich schrieb Ihnen ja schon, daß die erste Auflage des »Kalkwerks« (es waren 3000 Exemplare) vergriffen ist, eine zweite wird am 13.
Weitere Kostenlose Bücher