Der Bund der Drachenlanze - 08 Michael Williams
Morgen ging die Tür wie gewohnt auf. Sturm setzte
sich nach der unruhigen Nacht etwas hungriger auf als
sonst und hoffte, der Brei würde heute morgen etwas besser schmecken. Doch nicht sein Frühstück kam, sondern die
Druidin Ragnell.
Eskortiert von Wachmann Oron trat die alte Frau herein.
Mit einer raschen Handbewegung entließ sie den großen
Kerl, der ihr widerstrebend nachsah, als er die Tür hinter
ihr schloß.
»Dir ist klar, daß du lange hier sein wirst«, sagte sie.
Sturm sagte kein Wort. Wie sollte er mit der Mörderin
seines Vaters reden? Wütend legte er sich wieder auf die
Matratze und drehte sein Gesicht zur Wand.
Hinter sich hörte er die Druidin schlurfen und husten. Es
war schwer, sie sich an der Spitze einer Armee vorzustellen.
»Und das ist deine Begrüßung?« fragte sie. »Das ist die
berühmte solamnische Höflichkeit?«
Sturm wälzte sich herum und warf ihr durch den Raum
einen zutiefst haßerfüllten Blick zu.
»Vielen Dank, Lady«, antwortete er mit eisiger Höflichkeit, »aber ich würde meinen Brei Eurer Gegenwart vorziehen.«
Die Druidin lächelte. Mit knackenden Gelenken setzte sie
sich vor ihn. Aus den Falten ihrer Robe zog sie einen Zweig
– Weide vielleicht, doch mit Pflanzen kannte Sturm sich
kaum aus, so daß er es nicht genau feststellen konnte. Mit
sicherer, gekonnter Geste malte sie einen Kreis auf den
Erdboden.
»Dein Vergehen ist schwer, Kleiner«, stellte sie fest.
»Schwer und teuer.«
»Vergehen? Daß ich von bewaffneten Wachen vor Euch
geschleppt wurde?«
Die Druidin ignorierte ihn, denn ihre Augen lagen auf
dem Staubhäufchen in dem frisch gezogenen Kreis. Bald
merkte Sturm, wie seine Augen unwillkürlich den raschen,
kreisenden Bewegungen ihres Stocks folgten.
»Es ist ein Vergehen«, erklärte sie, »denn die Menschen
in Lemisch fürchten die Legionen der Solamnier, ihre hellen Schwerter, ihre Pferde und die Rechtschaffenheit in ihren Augen.«
»Vielleicht ist ihre Furcht selbstverschuldet, Lady
Ragnell!« gab Sturm zurück. »Vielleicht schreit noch ein
Verbrechen in Lemisch nach Gerechtigkeit! Vielleicht stehen verlassene Schlösser im Norden, die davon zeugen – «
»Wovon zeugen?« unterbrach die Druidin mit ruhiger,
ungerührter Stimme. Tief in ihren Augen sah Sturm ein
Flackern. Zorn? Belustigung? Er wußte es nicht.
»Vielleicht gibt es einen Grund, Sturm Feuerklinge«, besänftigte ihn Lady Ragnell. »Die jungen Leute glauben das,
und deshalb bitten wir sie, das Schwert zu ergreifen.«
Sturm hörte ihr kaum zu, denn sein Blick hing schon
wieder an dem Staubkreis fest, der jetzt weiter wurde – wie
Ringe auf der Oberfläche eines ruhigen Teichs, wenn etwas
ins Wasser geworfen wird.
»Aber ich wollte nicht über Politik streiten, junger
Mann«, sagte Ragnell. Jetzt begann sie zu singen, wobei
sich der Staub um sie erhob. »Oder über Förmlichkeiten auf
dem Land und bei Hof, ich wollte nicht loben oder strafen,
sondern nur zeigen…«
Ihre Stimme hob sich zum Gesang. Sturm hörte eine der
alten Weisen und bemühte sich, sie einzuordnen. Dann
glaubte er, tief in den Atempausen zwischen den Noten,
tief im Raum zwischen den Worten, eine zweite Melodie zu
vernehmen, ein Lied unterhalb der Worte und Gedanken.
»Ich zeige dir eine Handvoll Staub«, rezitierte Ragnell,
deren Stab sich schneller und schneller bewegte. »Eine
Handvoll Staub zeige ich dir…«Ein verschneites Land erstreckte sich glatt und baumlos vor ihm, so echt, daß er zitterte, wenn er es ansah.
Trot. Etwas verriet ihm, daß die Steppen von Trot vor
ihm lagen. Er sah zurück in den Winter, Monate zurück,
auf dickes Eis und den Jahreswechsel.
Es war einmal, begann eine ironische Stimme, deren Worte durch den kalten Wind tönten, den er hören und fühlen
konnte. Überrascht schüttelte Sturm den Kopf. Er konnte
nicht ausmachen, ob diese Stimme von Mara stammte oder
aus dem Singsang der Druidin.
Zur Julzeit im Goblinland, fuhr die Stimme fort. Jetzt war
ein Dorf zu sehen, ein Dutzend einfacher Hütten, die halb
im Schnee versunken waren. Rauch stieg von einem großen
Feuer in der Mitte auf, und kleine, kräftige Gestalten in
Pelzen liefen gebückt zwischen den Schatten herum.
Ein verwahrloster, einsamer Ort in der winterlichen Einöde von Trot. Schon bei dem Anblick sträubten sich Sturm
die Haare, denn das erinnerte ihn an Geschichten von
Goblinüberfällen, von Horden, die so schnell und gnadenlos nahten wie Wölfe.
Als der Trupp Solamnier schnell wie
Weitere Kostenlose Bücher