Der Canyon
irgendetwas vor sich. Und wir haben nicht die leiseste verdammte Ahnung, was das sein könnte.«
TEIL IV
Devil's Graveyard
T-Rex war hochintelligent. Ihre Gehirnmasse war im Vergleich zur Körpermasse größer als bei den meisten anderen Reptilien, lebend oder ausgestorben, und absolut gesehen war ihr Gehirn eines der größten, das sich je bei einem an Land lebenden Tier entwickelt hatte, fast so groß wie das eines Menschen. Doch das Großhirn, der Teil, der für das Denken zuständig ist, fehlte so gut wie völlig. Ihr Verstand war eine biologische Input-Output-Maschine, die instinktive Verhaltensweisen steuerte. Doch die Programmierung war hervorragend. Sie dachte nicht über das nach, was sie tat. Sie tat es einfach.
Sie verfügte nicht über ein Langzeitgedächtnis. Erinnerungsvermögen war etwas für Schwächlinge. Es gab keine Raubtiere, die sie erkennen, keine Gefahren, die sie meiden, nichts, was sie lernen musste. Die Instinkte sorgten dafür, dass ihre Bedürfnisse erfüllt wurden, und die waren sehr einfach. Sie brauchte Fleisch. Eine Menge Fleisch.
Ein Geschöpf ohne Erinnerung zu sein bedeutet, frei zu sein. Die Sandhügel, in denen sie zur Welt gekommen war, ihre Mutter, ihre Geschwister, die flammenden Sonnenuntergänge ihrer Kindheit, die heftigen Regenfälle, die alle Flüsse rot färbten und die tiefer gelegenen Landstriche überfluteten, die Dürreperioden, die den Boden spröde und rissig machten – an all das hatte sie keine Erinnerung. Sie erfuhr das Leben so, wie es kam, ein einziger Strom von Sinneseindrücken und Reaktionen, der seine Vergangenheit verlor, wie ein Fluss sich im Ozean verliert.
Sie sah mit an, wie ihre fünfzehn Geschwister starben oder erlegt wurden, und empfand nichts dabei. Sie wusste nichts davon. Sie bemerkte nicht einmal, dass sie fort waren, sondern nur, dass ihre Kadaver zu Fleisch wurden, das sie fressen konnte. Das war alles. Nachdem sie sich von ihrer Mutter getrennt hatte, erkannte sie sie niemals wieder.
Sie jagte, sie tötete, sie fraß, schlief und zog herum. Sie war sich der Tatsache, dass sie ein »Revier« hatte, nicht bewusst – ihre Bewegungen folgten Schneisen zerstörter Vegetation und entwurzelter Farne, welche die großen Herden der Entenschnabeldinosaurier hinterließen, ohne sie zu erkennen oder sich daran zu erinnern. Die Gewohnheiten ihrer Beute waren auch ihre Gewohnheiten.
Für menschliche Emotionen wie Liebe, Hass, Mitgefühl, Kummer, Reue oder Glück gab es in ihrem Gehirn kein Äquivalent. Sie kannte nur Schmerz und Lust. Sie war so programmiert, dass es ihr Lust verschaffte, zu tun, was ihre Instinkte verlangten – es nicht zu tun, war schlicht undenkbar.
Sie dachte nicht über die Bedeutung ihrer Existenz nach. Sie war sich nicht bewusst, dass sie existierte. Sie war einfach da.
1
Das Kreuz der Start- und Landebahnen der White Sands Missile Range, New Mexico, schlief im ersten Morgengrauen – zwei Streifen Asphalt auf Gipsbetten, so weiß wie Schnee. Neben der Startbahn standen ein Terminal, erleuchtet von gelben Natriumdampflampen, und eine Reihe Hangars. Es herrschte eine beinahe kristalline Stille.
Vor dem östlichen Horizont, der sich allmählich aufhellte, erschien ein Fleck. Langsam nahmen der geteilte Schwanz und die Schwenkflügel einer F-14 Tomcat Gestalt an, deren Maschinen im direkten Landeanflug ohrenbetäubend dröhnten. Der Kampfjet setzte in zwei kleinen Wolken Gummiqualm auf und ließ eine Reihe abgestorbener Yuccas am Rand der Landebahn erzittern. Die Schubumkehr wurde eingeschaltet, und die F-14 rollte langsam zum Ende der Runway, beschrieb eine Kurve und kam vor dem Terminal-Gebäude zum Stehen. Zwei Männer von der Bodencrew kümmerten sich um den Jet, schoben Keile unter die Räder und rollten Treibstoffschläuche herbei.
Das Cockpit öffnete sich, und die schmale Gestalt eines Mannes stieg aus dem Sitz des Copiloten und sprang leichtfüßig auf den Boden. Er trug einen schwarzen Trainingsanzug und hatte eine zerschrammte lederne Aktentasche bei sich. Er ging über den Asphalt zum Gebäude, salutierte zackig den beiden Soldaten, die die Tür bewachten; sie erwiderten den Gruß, verblüfft über die plötzliche Förmlichkeit.
Alles an dem Mann war kalt, sauber und symmetrisch, wie ein Stück gut bearbeiteter Stahl. Sein Haar war schwarz und glatt und schräg über die Stirn gekämmt. Seine Wangenknochen traten deutlich hervor und schoben die straffe Haut scharf nach hinten. Seine Hände waren so
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