Der Canyon
zierlich und sauber, dass sie aussahen wie frisch manikürt. Seine Lippen waren schmal und grau, die Lippen eines Toten. Man hätte ihn für einen Asiaten halten können, wenn die stechenden blauen Augen nicht gewesen wären, die einem förmlich aus seinem Gesicht entgegensprangen, so stark war der Kontrast zu seinem schwarzen Haar und der weißen Haut.
J. G. Masago passierte den Eingang und betrat das Terminal aus Beton-Formsteinen. Mitten im Raum blieb er stehen, denn es missfiel ihm, dass ihn hier niemand erwartete. Masago konnte absolut keine Zeit verschwenden.
Die Zwangspause erlaubte ihm, kurz nachzudenken und festzustellen, dass die Operation bisher perfekt verlaufen war. Er hatte das Problem im Museum gelöst und die Daten beschlagnahmt. Eine sofortige Untersuchung der Proben bei der NSA hatte Resultate erbracht, die alle Erwartungen übertrafen. Dies war der große Augenblick: Das bedeutende Ereignis, auf das die Abteilung LS480, die geheime Dienststelle, die er leitete, seit der Rückkehr der Apollo-17-Mission vor über dreißig Jahren wartete, war eingetreten. Das Endspiel hatte begonnen.
Masago bedauerte, was er dem Briten im Museum hatte antun müssen. Es war stets eine Tragödie, wenn ein Menschenleben geopfert werden musste. Soldaten verloren ihr Leben im Krieg, Zivilisten zu Friedenszeiten. Man musste Opfer bringen. Andere würden sich um die Laborassistentin kümmern, diese Crookshank, die keine besondere Priorität mehr darstellte, nachdem die Daten und Proben vollständig sichergestellt waren. Ein weiterer bedauerlicher Kollateralschaden.
Masago war das Kind einer japanischen Mutter und eines amerikanischen Vaters, empfangen in den Ruinen von Hiroshima in den ersten Wochen nach dem Abwurf der Atombombe. Seine Mutter war wenige Jahre später gestorben, schreiend vor Schmerz, an dem Krebs, den der Schwarze Regen verursacht hatte. Sein Vater war natürlich noch vor seiner Geburt verschwunden. Masago schaffte es, nach Amerika zu gelangen, als er gerade fünfzehn Jahre alt war. Elf Jahre später, da war er sechsundzwanzig, setzte das Apollo-17-Landemodul am Taurus-Littrow-Krater am Rand des Mare Serenitatis auf. Damals ahnte er noch nicht, dass diese Apollo-Mission eine Entdeckung gemacht hatte, die möglicherweise die bedeutendste in der Geschichte der Wissenschaft war – und dass dieses Geheimnis irgendwann unter seiner Obhut stehen würde.
Masago war zu diesem Zeitpunkt ein kleiner CIA-Beamter. Weil er fließend Japanisch sprach und ein brillanter Mathematiker war, folgte seine Karriere einem verschlungenen, vielfach verzweigten Pfad durch diverse Ebenen der Defense Intelligence Agency. Er war sehr, sehr vorsichtig, zurückhaltend, aber brillant, bescheiden trotz seiner großen Leistungen und daher äußerst erfolgreich. Schließlich übertrug man ihm die Leitung einer kleinen, streng geheimen Abteilung mit der Bezeichnung LS480 und enthüllte ihm das Geheimnis.
Das größte aller Geheimnisse.
Das war Schicksal, denn Masago kannte eine schlichte Wahrheit, der sich keiner seiner Kollegen zu stellen wagte. Er wusste, dass die Menschheit am Ende war. Die Menschheit hatte die Fähigkeit erlangt, sich selbst zu zerstören, und daher würde sie sich selbst zerstören. Q.e.d. Für Masago war das so offensichtlich und einfach wie zwei plus zwei. War es, seit es Menschen gab, schon jemals vorgekommen, dass die Menschheit die Waffen, die sie zur Verfügung hatte, nicht nutzte? Die Frage lautete nicht ob, sondern wann. Und es war das »Wann« in dieser Gleichung, das Masago unterstand. Es lag in seiner Macht, das Ereignis zu verzögern. Wenn er seine Pflicht tat, läge es an ihm ganz persönlich, der Menschheit fünf weitere Jahre zu geben, vielleicht zehn – womöglich sogar eine ganze Generation. Das war die edelste aller Berufungen, doch sie erforderte moralische Disziplin. Wenn jemand dafür früh sterben musste, war das ein kleiner Preis. Wenn ein Tod das Ereignis auch nur um fünf Minuten hinauszögern konnte … welche Blumen könnten in dieser Zeit erblühen? Wir waren ohnehin alle zum Untergang verurteilt.
Seit zehn Jahren leitete er LS480 so unauffällig wie möglich. Sie hingen in einer Warteschleife, einem Wartespielchen, einem Interregnum. Er hatte immer gewusst, dass der Hammer eines Tages fallen würde.
Und jetzt war er gefallen.
Er war gefallen, an einem sehr unwahrscheinlichen Ort und auf eine sehr unwahrscheinliche Weise. Doch Masago war dafür bereit gewesen. Er hatte zehn Jahre
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