Der Canyon
ihres Bewusstseins.
Wenn sie durch die Wälder strich, eilte ihr die Angst voraus wie ein giftiges Gas. Ihr drei Meter langer Schritt war unhörbar. Der Boden erzitterte nicht, wenn sie sich fortbewegte; er erbebte nicht einmal leise. Sie lief auf Zehenspitzen, leicht und lautlos, und verschmolz durch ihre Farbe mit dem Wald.
Sie kannte Hunger, sie kannte Sattheit. Sie kannte das köstliche Sprudeln von warmem Blut im Maul. Sie kannte Licht und Dunkelheit. Sie kannte Schlaf und Wachen.
Das biologische Programm lief unerbittlich weiter.
1
Melodie sah dem letzten Trupp Wachleute nach, die gerade mit klimpernden Schlüsselbunden das Mineralogielabor verließen; ihre Stimmen hallten laut durch den Flur. Sie schloss hinter ihnen die Tür ab, lehnte sich dagegen und atmete erleichtert auf. Es war fast ein Uhr. Der Gerichtsmediziner war gekommen und hatte einen Stapel Papiere unterschrieben; die Sanitäter hatten den Leichnam weggekarrt; ein gelangweilter Polizist hatte eine flüchtige Runde durchs Labor gedreht und sich auf einem Klemmbrett ein paar Notizen gemacht. Alle gingen davon aus, dass ein Herzinfarkt vorlag, und Melodie war ziemlich sicher, dass die Obduktion zu demselben Ergebnis führen würde.
Nur sie vermutete, dass es Mord gewesen war. Der Mörder war hinter dem Dinosaurier her, da war Melodie ganz sicher – warum sonst hätte er ihre sämtlichen Forschungsergebnisse stehlen sollen, ihre Arbeit? Sie musste jetzt schnell handeln.
Melodie fragte sich, ob es richtig gewesen war, ihren Verdacht für sich zu behalten. Sie hatte keine wirklichen Beweise für einen Mord, abgesehen davon, dass Corvus seine Zeit nicht auf einen Trilobiten vergeuden würde. Wenn sie ihren Verdacht geäußert hätte, wäre sie in den Fall mit hineingezogen worden und hätte nur den Mörder auf sich aufmerksam gemacht. Das war eine Sache, die sie sich nicht leisten konnte – vor allem jetzt, da so viel auf dem Spiel stand. Sie hatte weiß Gott Wichtigeres zu tun.
Sie schnappte sich einen schweren Metallstuhl, trug ihn zur Tür, klemmte ihn unter den Türknauf und verkeilte ihn, bis sie sicher war, dass niemand hereinkommen konnte, nicht einmal mit einem Schlüssel. Falls jemand fragen sollte, warum sie die Tür verbarrikadiert hatte, konnte sie ja behaupten, der Todesfall habe sie geängstigt. Die Tatsache, dass nur wenige Kuratoren sich herabließen, aus ihren holzvertäfelten Büros im vierten Stock in das Kellerlabor hinabzusteigen, und schon gar nicht an einem Sonntag, kam ihr gelegen.
Sie würde reichlich Zeit haben und ungestört arbeiten können.
Melodie eilte zu dem Lagerraum, der dem Labor angeschlossen war. Hier waren Zehntausende Mineralien und Fossilien auf Regalen gestapelt, die vom Boden bis zur Decke reichten, allesamt nummeriert und nach Kategorien geordnet. Die kleineren Exemplare lagerten in Schubladen, die größeren in Schachteln oder Kisten in den offenen Regalen. Eine Bibliotheksleiter mit Rollen bot Zugang zu den höchsten Regalbrettern.
Melodies Herz klopfte vor Angst und Aufregung, als sie die Leiter in der Schiene herumschob, bis sie in der Regalreihe stand, wo sie sie haben wollte. Sie stieg hinauf. Auf dem obersten Regalbrett, im Halbdunkel direkt unter der Decke, stand eine alte Holzkiste mit einem Aufdruck in mongolischer Schrift. Auf einem verblassten Etikett stand:
Protoceratops andrewsi Gelege
Flammende Klippen
Katalognr. 1923-5693A
W. Grainger, Sammler
Der hölzerne Deckel schien festgenagelt, war jedoch lose. Melodie hob ihn an, legte ihn beiseite und zog eine Lage Stroh aus der Kiste.
Zwischen den Eiern eines fossilen Dinosauriernestes eingebettet lagen die Kopien der CD-ROMs, die Melodie von all ihren Daten und Bildern gebrannt hatte. Daneben befand sich ein kleiner Plastikbehälter mit drei hauchdünnen Sektionen der Originalprobe, zu klein, als dass man sie vermissen würde.
Melodie ließ die CD-ROMs liegen, nahm den Plastikbehälter mit den Proben heraus, stopfte vorsichtig das Stroh wieder in die Kiste, setzte den Deckel auf, kletterte die Leiter hinunter und rollte sie zu ihrem vorherigen Standort zurück.
Sie brachte den Plastikbehälter zur Poliereinheit, nahm ein Plättchen heraus und fixierte es im Gerät. Als das Epoxidharz getrocknet war, begann sie das Stück zu polieren – sie wollte ein perfektes, mikrofeines Plättchen erhalten, fein genug, um ein paar wirklich gute Bilder aus dem Elektronenmikroskop zu bekommen. Das war absolute Präzisionsarbeit, und ihre
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