Der Canyon
zitternden Hände machten sie ihr nicht leichter. Mehrmals musste sie innehalten, ein paar Mal tief durchatmen und sich sagen, dass es keinen Grund gab, warum der Mörder zurückkommen sollte; er hatte bekommen, weshalb er hergekommen war, und er konnte nicht ahnen, dass sie Kopien ihrer Daten angefertigt hatte. Als die Probe fertig war, brachte sie sie in den REM-Raum, um das Rasterelektronenmikroskop anzuschalten, das erst warm werden musste. Dabei fiel ihr Blick auf das Gerätelogbuch, das offen daneben lag. Der letzte Eintrag, in schwungvoller, stark geneigter Handschrift verfasst, sprang ihr förmlich ins Auge:
Wissenschaftler: I. Corvus
Fundort/Probennummer: High Mesas/Chama Wilderness, New M., T-Rex.
Bemerkungen: Dritte Untersuchung e. bemerkenswerten
Wirbelfragments, T-Rex. Außergewöhnlich! Historische
Entdeckung. I.C.
Dritte Untersuchung? Sie blätterte zurück und fand zwei weitere Einträge, jeweils am unteren Rand einer Seite, wo Corvus offenbar noch einige freie Zeilen gefunden hatte. Sie hatte etwas Derartiges vermutet, doch nicht so unverhohlen. Der Mistkerl hatte vorgehabt, sie nach allen Regeln der Kunst zu betrügen und zu beklauen. Und da sie ja so eine nette, diensteifrige Labortechnikerin war, hätte sie es beinahe zugelassen. Sie ging in den TEM-Raum, blätterte das Logbuch des Transmissionselektronenmikroskops durch und fand eine Reihe ähnlicher gefälschter Einträge. Das hatte er also so spät in der Nacht im Labor getan: ihre Arbeit gestohlen und die Gerätelogbücher frisiert.
Sie merkte erst jetzt, dass sie keuchte. Seit der ersten Klasse hatte sie Wissenschaftlerin werden wollen. Später hatte ihr die Vorstellung, die Wissenschaft sei das einzige Gebiet menschlicher Unternehmungen, wo die Leute noch altruistisch dachten und nicht für sich selbst, sondern für das Wissen der gesamten Menschheit arbeiteten, sehr viel bedeutet. Sie hatte immer daran geglaubt, die Wissenschaft sei ein Feld, in dem das Verdienst demjenigen zuerkannt wurde, der es sich erarbeitet hatte.
Wie naiv.
Es gab nur eine Möglichkeit, sich die Lorbeeren zu sichern und sich zugleich vor dem Mörder zu schützen: Sie musste ihre Forschungsarbeiten beenden und vor dem Mörder etwas über den Fund veröffentlichen. Wenn sie ihre Ergebnisse bei der Online-Ausgabe des Journal of Paleontology einreichte, konnten sie innerhalb von drei Tagen von Kollegen rezensiert und elektronisch veröffentlicht werden.
Natürlich würde sie Corvus' Beitrag erwähnen, der ja nicht allzu groß gewesen war – er hatte ihr die Probe zur Verfügung gestellt. Wo das Fossil hergekommen war, wem es gehörte, wie er es in die Hände bekommen hatte – das waren Fragen, die weit über ihren Arbeitsbereich hinausführten. Natürlich, es würde kontroverse Diskussionen geben. Die Probe könnte gestohlen sein, oder sogar illegal. Aber nichts von alledem berührte den Kern ihrer Arbeit: Man hatte ihr eine Probe gegeben, die sie analysieren sollte, und genau das hatte sie getan. Sobald ihre Ergebnisse veröffentlicht waren, gäbe es keinen Grund mehr, sie zu töten.
Dann hielt sie alle Trümpfe in der Hand.
2
Auf seinem Posten hinter dem großen Felsbrocken verlagerte Maddox sein Gewicht, streckte den Fuß aus und ließ ihn kreisen, um ihn wieder beweglich zu machen. Die Sonne auf seinem nackten Rücken fühlte sich an wie ein heißer Amboss. Schweiß lief ihm über Kopf, Hals und Gesicht und brannte in seinen Kratzern. Die Wunde am Oberschenkel pochte schmerzhaft – sie hatte sich zweifellos entzündet.
Er wischte sich das Gesicht ab und blinzelte sich den Schweiß aus den Augen. Seine Zunge fühlte sich an wie verrostet, seine Lippen waren aufgesprungen. Herrgott, war er durstig. Zwanzig Minuten waren vergangen, und die Broadbents waren immer noch nicht aufgetaucht. Er warf einen Blick durch das Zielfernrohr, suchte den leeren Canyon ab. Hatten sie einen Umweg eingeschlagen, von dem er nichts wusste, oder irgendwo Wasser gefunden? Dann waren sie vielleicht doch nach Norden abgebogen, in Richtung Llaves. Wenn er sie verloren hatte –
Und da waren sie plötzlich.
Er drückte das Auge ans Zielfernrohr, schmiegte den Finger in die heiße Biegung des Abzugs und zwang sich, sich zu entspannen und zu warten, bis sie auf knapp zweihundert Meter herangekommen waren. Er konnte den Griff der Waffe in Broadbents Gürtel erkennen. Der Kerl würde nicht einmal genug Zeit haben, sie zu ziehen, geschweige denn abzufeuern. Und selbst wenn, würde
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