Der Canyon
Quarterly aufschlug und voll freudiger Erregung feststellte, dass ein Professor, Inhaber eines sehr begehrten Lehrstuhls, von seinen Studenten verehrt, mit zahllosen Preisen und Ehrungen ausgezeichnet, ein wahrer Pionier seines Fachgebiets, tragischerweise viel zu früh dahingeschieden war. Hurra.
Andererseits war Melodie eine unbeirrbare Optimistin, und im tiefsten Inneren hatte sie das Gefühl, dass sie zu etwas Großem berufen war. Deshalb verschickte sie weiterhin Hunderte von Lebensläufen und bewarb sich für absolut jeden Posten, der irgendwo ausgeschrieben wurde. Bis dahin war ihr Leben hier erträglich: Im Labor ging es ruhig zu, sie trug die Verantwortung für ihren Bereich allein, und wenn sie alledem einmal entkommen wollte, brauchte sie nur die Augen zu schließen und sich in die Zukunft zu versetzen, jenes weite, wundersame Reich, in dem sie Abenteuer erleben, fantastische Entdeckungen machen, Lobreden entgegennehmen und einen Lehrstuhl ihr Eigen nennen konnte.
Melodie öffnete die Augen wieder und stellte sich der gewöhnlichen Welt, dem Labor mit seinen nackten Betonwänden, dem leisen Summen der Neonröhren, dem steten Zischen der Luftumwälzung, den Regalen voller Fachbücher und den mit mineralischen Proben vollgestopften Schränken. Sogar die millionenteure technische Ausstattung, einst so aufregend, langweilte sie inzwischen. Ruhelos glitt ihr Blick über die gewaltige energiedispersive Röntgenanalysesonde JEOL JXA-733 Superprobe, den Epsilon-5-Röntgendiffraktometer mit dreidimensionaler, polarisierender Optik, eine 600-Watt-Gd-Anode-Röntgenröhre mit 100-Kilovolt-Generator, das Watson 55 Transmissionselektronenmikroskop, den PowerMac G5 mit wassergekühltem 2,5-Gigahertz-Multicore-Prozessor, zwei petrographische Labormikroskope, ein polarisierendes Lichtmikroskop von Meiji, digitale Kameraaufbauten, eine voll ausgestattete Probenpräparationseinheit mit diamantbeschichteten Schneideklingen, Poliereinheiten, Kohlenstoffbeschichtern –
Was nutzte das alles, wenn die ihr nur langweiliges Zeug zum Analysieren gaben?
Melodies Tagtraum wurde von einem leisen Summen unterbrochen; es zeigte an, dass jemand ihr menschenleeres Labor betreten hatte. Zweifellos ein weiterer wissenschaftlicher Mitarbeiter mit der Bitte, sie möge für eine kleine Abhandlung, die dann doch kein Mensch lesen würde, irgendeinen grauen Stein untersuchen. Mit den Füßen auf dem Schreibtisch und der Cola in der Hand wartete sie auf den Eindringling, der bald um die Ecke kommen musste.
Bald hörte sie das selbstsichere Klappern teurer Schuhe auf dem Linoleum, und ein schlanker, eleganter Mann in einem schicken blauen Anzug erschien – Dr. Iain Corvus.
Hastig zog sie die Füße vom Tisch, wobei die beiden vorderen Stuhlbeine mit lautem Krachen auf dem Boden landeten. Sie strich sich das Haar aus dem errötenden Gesicht. Die Kuratoren kamen so gut wie nie ins Labor, denn sie empfanden es als unter ihrer Würde, sich mit dem technischen Personal abzugeben. Dennoch stand nun Corvus persönlich vor ihr, eine beeindruckende Erscheinung in dem Savile-Row-Anzug und den handgefertigten Schuhen von Williams and Croft. Er sah gut aus, auf eine unheimliche Jeremy-Irons-Art.
»Melodie Crookshank?«
Erstaunlich, er kannte sogar ihren Namen. Sie blickte in sein längliches, lächelndes Gesicht; er hatte makellose Zähne, und sein Haar war schwarz wie die Nacht. Sein Anzug raschelte leise bei jeder Bewegung.
»Ja«, sagte sie schließlich und versuchte, möglichst locker zu klingen. »Das bin ich, Melodie Crookshank.«
»Wie schön, dass ich Sie gleich antreffe, Melodie. Störe ich Sie gerade?«
»Nein, nein, ganz und gar nicht. Ich sitze hier nur rum«, platzte sie heraus, dann sammelte sie sich, errötete und kam sich dumm vor.
»Ich habe mich gefragt, ob ich Ihren Arbeitstag mit einer Probe unterbrechen dürfte, die ich gern analysiert hätte.« Er streckte ihr einen Probenbeutel entgegen und ließ ihn vor ihr hin und her baumeln. Seine Zähne blitzten.
»Natürlich.«
»Ich habe hier eine kleine, äh, Herausforderung für Sie. Sind Sie dabei?«
»Ja, sicher.« Corvus stand in dem Ruf, etwas abgehoben zu sein, sogar arrogant, aber jetzt kam er ihr beinahe verspielt vor.
»Das ist eine Sache nur zwischen uns beiden.«
Melodie zögerte und fragte dann vorsichtig: »Wie meinen Sie das?«
Er reichte ihr die Probe, und sie betrachtete das Stück. In dem Beutel steckte ein kleiner Zettel, von Hand beschriftet, auf dem stand:
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