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Der Chancellor

Titel: Der Chancellor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jules Verne
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wir hörten!
    André Letourneur wollte sich auf die Kannibalen stürzen und ihnen die grauenvollen Ueberreste entreißen, so daß ich Noth hatte, ihn davon zurückzuhalten.
    Und übrigens, es war ja ihr Recht, das Recht der Unglücklichen! Hobbart ist ja todt; sie haben ihn nicht gemordet! Und wie eines Tages der Hochbootsmann sagte, »es ist besser, von einem Todten zu essen, als von einem Lebendigen«!
    Wer weiß aber, ob dieser Auftritt nicht die Einleitung zu noch schrecklicheren sein wird, welche das Floß mit Blut besudeln könnten!
    Ich theile André Letourneur meine Gedanken mit, aber ich vermochte das Entsetzen nicht zu unterdrücken, das bei ihm seinen Höhepunkt erreicht und alle seine Qualen verstummen läßt.
    Indeß, man bedenke, wir sterben vor Hunger, und acht unserer Gefährten können nun diesem grausamen Tode vielleicht entgehen!
    Hobbart war, Dank seinen versteckten Vorräthen, der Wohlgenährteste von uns. Keine organische Krankheit hat sein Körpergewebe verändert, in vollerGesundheit ist er durch einen Gewaltstreich aus dem Leben geschieden! ...
    Doch zu welcher entsetzlichen Schlußfolgerung läßt sich mein Geist hinreißen? Wohin gerathe ich? Flößen mir jene Kannibalen jetzt mehr Vergnügen oder mehr Abscheu ein?
    In diesem Augenblicke erhebt einer derselben seine Stimme. Es ist Daoulas, der Zimmermann.
    Er spricht davon, Meerwasser zu verdampfen, um Salz zu gewinnen.
    »Und das Übrigbleibende salzen wir ein, sagt er.
    – Ja«, antwortet der Hochbootsmann.
    Dann wird es still. Der Vorschlag des Zimmermanns ist ohne Zweifel angenommen worden, denn ich höre nichts mehr. Ein tiefes Schweigen herrscht wieder an Bord des Flosses, und ich schließe daraus, daß meine Gefährten schlafen.
    Sie haben jetzt keinen Hunger mehr.

XLVIII.
    Am 19. Januar.
    – Während dieses Tages derselbe Himmel, dieselbe Temperatur, und auch die Nacht kommt heran, ohne eine Aenderung in diesem Zustande herbei zu führen. Nicht einige Stunden habe ich schlafen können.
    Gegen Morgen höre ich Zornesrufe an Bord.
    Die Herren Letourneur und Miß Herbey, die mit mir unter demselben Zeltdache verweilen, erheben sich. Ich schlage die Leinwand zurück und sehe nach, was vorgeht.
    Der Hochbootsmann, Daoulas und die anderen Matrosen sind in furchtbarer Aufregung. Robert Kurtis, der im Hintertheile sitzt, springt auf und sucht Jene, nachdem er sich nach der Ursache ihres Zornes erkundigt hat, zu beruhigen.
    »Nein! Nein! Wir müssen wissen, wer uns das angethan hat, ruft Daoulas und schleudert wilde Blicke um sich herum.
    – Ja, fällt der Hochbootsmann ein, es ist ein Dieb hier, da unsere Ueberbleibsel verschwunden sind.
    – Ich war es nicht! – Ich auch nicht!« antworten die Matrosen Einer nach dem Anderen.
    Ich sehe die Unglücklichen alle Ecken durchsuchen, die Segel aufheben, die Planken der Plateform verschieben. Ihre Wuth wächst nur, je länger sie vergeblich suchen.
    Der Hochbootsmann kommt auf mich zu.
    »Sie müssen den Dieb kennen, sagt er.
    – Den Dieb von was? Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen,« habe ich ihm geantwortet.
    Daoulas und einige andere Matrosen nähern sich.
    »Wir haben das ganze Floß durchwühlt, sagt Daoulas, jetzt ist nur noch dieses Zelt zu untersuchen...
    – Niemand von uns hat dieses Zelt verlassen, Daoulas.
    – Wir müssen nachsehen.
    – Nein, laßt die in Ruhe, welche nahe daran sind, vor Hunger zu sterben!
    – Mr. Kazallon, sagt der Hochbootsmann in ruhigem Tone zu mir, wir beschuldigen Sie nicht... wenn Einer von Ihnen sich seinen Theil genommen hätte, den er gestern verschmähte, so wäre das jasein Recht. Aber Alles ist abhanden gekommen, Alles, Sie verstehen mich!
    – Untersuchen wir das Zelt!« ruft Sandon.
    Die Matrosen dringen vor, und ich vermag den Unglücklichen, die der Zorn verblendet, nicht zu wehren. Eine schreckliche Furcht erfaßt mich... sollte Mr. Letourneur nicht für sich, doch für seinen Sohn das vielleicht gethan haben?... Wenn es der Fall ist, werden diese Furien ihn zerreißen.
    Ich sehe Robert Kurtis an, wie um von ihm Schutz zu erbitten, und der Kapitän stellt sich an meine Seite. Er hält beide Hände in den Taschen, doch vermuthe ich, daß er darin eine Waffe habe.
    Inzwischen haben Miß Herbey und die Herren Letourneur auf Anordnung des Hochbootsmannes das Zelt verlassen müssen, das man bis in die geheimsten Winkel durchsucht – doch zum Glück vergebens.
    Offenbar sind die Reste Hobbart's, da man sie nirgends findet, in's Meer geworfen

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