Der Chefarzt
diesmal erfuhr die Gräfin von ihm die Wahrheit. Der Verlauf der Erkrankung war ausgesprochen milde, sie litt nicht sehr darunter. Als sie an dem Schlaganfall starb, war Elisabeth Kerckhoff gerade achtundsiebzig geworden. Mit Bertram verband sie sechzehn Jahre lang ein inniges Verhältnis.
In seinem Arbeitszimmer im ersten Stock der Klinik klingelte Professor Bertram nach einem Kaffee. Er hatte Elisabeths Augen selbst geschlossen, ihr eine Weile die Hand gehalten, dann sich still von ihr verabschiedet. Bertram saß an seinem Schreibtisch und betrachtete Elisabeths geöffnete Schmuckkassette, die ihm von der aufgeregten Nachtschwester gebracht worden war. Die Schmuckkassette war leer. Er fand nur ein paar alte Briefe. Drei davon waren von Karen – leicht vergilbtes, cremefarbenes Papier, schmerzlich-bekannte Handschrift –, er las sie nicht. Bertram glaubte sich an den Absender des vierten Briefes zu erinnern: ein schmächtiger Mann mit abstehenden Ohren und schlecht sitzenden Anzügen. Er war mit Karens Freundin Violet verheiratet. Verwundert fragte sich Bertram, was aus Violet geworden war. Nach Karens Tod hatte sie ihre Verbindung zu ihm jäh abgebrochen. Jetzt, zwölf Jahre später, stellte er überrascht fest, daß Karens beste Freundin bei ihrer Beerdigung nicht anwesend war.
Warum hatte Elisabeth den Brief dieses Mannes in ihrer Schmuckkassette aufbewahrt?
Bertram holte den Brief aus dem Umschlag.
2
»Verehrte Gräfin, vor einer Woche starb meine Frau. Ihre Erkrankung war lang und qualvoll, die Ärzte waren machtlos. Sie versuchte bis zuletzt, Haltung zu bewahren. Ich habe nicht gewußt, daß ein Mensch so lautlos leiden kann. Drei Wochen bevor sie starb, mußte man sie wegen des starken Geruchs in ein Einzelzimmer verlegen. Sie bat mich, sie nicht mehr zu besuchen. Sie wollte nicht, daß ich sie so in meiner Erinnerung behalte. Ich möchte Ihnen weitere Einzelheiten ersparen.
Eine Frage, für die ich nach wie vor keine Erklärung finde, ist Dr. Bertrams Verhalten Violet gegenüber. Er hat sie völlig ignoriert. Er hat sie nie besucht, obwohl sie in seiner Klinik starb. All die Monate ihrer Erkrankung hatte Violet ihr unerschütterliches Vertrauen in ihn gesetzt. Sie war fest davon überzeugt, er würde sie retten, sobald er aus Amerika zurückkäme. Sie glaubte ihn dort, obwohl er schon hier war. Gottlob blieb ihr diese Enttäuschung erspart. Ich versuche, seine Haltung zu verstehen, schließlich verlor er Ihre Tochter Karen auf ähnliche Weise wie ich meine Frau. Bitte fassen Sie diesen Brief nicht als einen Vorwurf auf. Es gibt Tage, an denen manche Erinnerungen durch ihre Intensität uns besonders wichtig erscheinen. Ich wünschte, Violet hätte ein Kind hinterlassen, so bleibt mir nur die Erinnerung. Wie lange wird sie noch reichen?«
3
Jetzt erinnerte sich Bertram an diesen Mann, der den Brief geschrieben hatte, an seine feuchten Rehaugen mit dem leidenschaftlichen Blick, der seine ganze traurige Erscheinung wettmachte. Damals lernte er ihn flüchtig als Violets Mann kennen. Jetzt erst erfuhr er, daß Violet nicht mehr lebte. Daß sie hier in der Klinik gestorben war, neun Monate nach Karens Tod, traf ihn auf besondere Weise. Warum hatte Elisabeth nie etwas davon erwähnt? Diesen Brief, warum hatte sie ihn dreizehn Jahre lang aufbewahrt? Immer wieder las er den Namen: Girstenbrey. Ein seltsamer Name.
Auf seinen Notizblock schrieb er: Violet Girstenbrey. Dann klingelte er nach seiner Sekretärin, um sich Violets Krankengeschichte aus dem Archiv bringen zu lassen.
Er versuchte sich zu erinnern, was er damals getan hatte. Bald nach Karens Tod verbrachte er einige Monate in Amerika, war aber für eine kurze Zeit zurückgekehrt, bevor er sich zu einem langen Studienaufenthalt dort entschloß. Es stimmte also, was Herr Girstenbrey in seinem Brief schrieb; er war zu dieser Zeit in der Klinik. Wenn er genauer nachdachte, war es Malvina, die ihn dazu bewog, die Amerikareise vorzeitig anzutreten. Damals arbeitete Malvina als wissenschaftliche Assistentin bei ihm in der Klinik. Sie hatte immer mehr die Initiative in seinen Privatangelegenheiten ergriffen.
Bertram klingelte erneut nach seiner Sekretärin, dann schaute er auf die Uhr. Es war noch zu früh. Durch den Nebel flutete weißliches Licht ins Zimmer, das rötliche Holz seines Schreibtisches erschien dadurch noch dunkler. Er stand auf, um das Fenster zu schließen, und hörte unten einen Unfallwagen vorbeifahren. Der graue Kies der Allee sah
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