Der Chefarzt
Stationsschwester durch die Krankenzimmer, inspiziert die Bettwäsche und die Kissenbezüge, hin und wieder hebt sie bei älteren Patienten die Decke und schaut nach den Zehennägeln. Sie sucht in den Schubladen der Nachtkästen nach nicht eingenommenen Tabletten und nach Süßigkeiten bei Zuckerkranken. Nachdem sie fertig ist, verscheucht sie zwei Schülerinnen, die sich im Flur angeregt über den vergangenen Abend unterhalten. Inzwischen wird der Boden auf Hochglanz gebracht.
Währenddessen geht der Stationsarzt die Unterlagen der Neuzugänge nochmals durch und versucht, sich die wichtigsten Daten aus den Krankengeschichten einzuprägen. Der Klinikchef schätzt es nicht, wenn man die Unterlagen oft zu Rate zieht. Er reagiert gereizt und stellt überflüssige Fragen. Im letzten Augenblick merkt der Stationsarzt, daß noch schriftliche Befunde fehlen, er hetzt die Assistenzärzte, die ihrerseits die Aufgabe den Medizinalassistenten delegieren. Dann ist es soweit.
Der Klinikchef erscheint in Begleitung des Oberarztes, der für diese Station zuständig ist, einer Reihe von Assistenzärzten, Gastärzten, Medizinalassistenten und Schwestern. Bertram hielt sich an jedem Bett auf. Er untersuchte, unterhielt sich mit den Kranken und gab Anweisungen. Aufmerksam hörte er sich die Ausführungen des Stationsarztes an und begnügte sich nicht mit einem Händedruck oder Kopfnicken. Er stellte eine Reihe zusätzlicher Fragen, während er die Patienten untersuchte. Seine Entscheidungen, die er meist ohne Zögern traf, zeugten von Sicherheit und großer Routine. Er besaß den Ruf eines Allroundklinikers. Er gehörte zu jenen Internisten, die auf allen Gebieten der Innenmedizin zu Hause waren und bei der zunehmenden Spezialisierung der Ärzte von Jahr zu Jahr weniger wurden. Es war ein Generationsproblem. Als Bertram von Bett zu Bett ging, spürten die Patienten seine Besorgnis und Anteilnahme. Er vermittelte ihnen die Gewißheit, daß alles Notwendige unternommen würde. An solchen Tagen waren manche Patienten wie ausgewechselt – vom Zweifel befreit, wirkten sie ruhig und zuversichtlich. Hier war Bertram die letzte Instanz.
2
Als die Visite Lisas Zimmer erreichte, war die Stille auf einmal vollkommen und die Augen der Kranken wie gebannt auf Bertram gerichtet, so daß sie sich nicht ohne die Neugierde einer Frau fragte, was für ein Mensch er sei. Nur wurde dieser Gedanke durch ein Zischen aus Fräulein Mörders Bett: »Jesus, der kommt nicht gerade aus den Federn« in eine andere Richtung gelenkt. Bertram sah fahl und müde aus. Die beiden tiefen Falten von der Nase zu den Mundwinkeln traten heute stärker hervor, sein Gesicht schien älter und ausgezehrt, als hätte es an Vitalität verloren. Doch vor Lisas Augen änderte sich dieses Gesicht. Im nächsten Augenblick verrieten die harten Züge Energie und Entschlossenheit, die Müdigkeit war verschwunden. Es schien, als ob er von seinen verschiedenen Gesichtern dies milde, menschliche, das seine Schwächen verriet, zu verbannen suchte. Er hielt sich am Bett des mageren Mädchens mit der Magensonde auf und sah sich lange und nachdenklich ihre Röntgenbilder an. Das Mädchen litt, wie Lisa inzwischen wußte, an einer Nervenerkrankung, wodurch sie eine völlige Abneigung gegen jegliche Speisen hatte. In zwei Monaten magerte sie so stark ab, daß man sie durch eine Sonde künstlich ernähren mußte. Trotzdem nahm sie weiter ab und hatte inzwischen ihr kritisches Untergewicht erreicht. Sie wog 49 Pfund. Bertram untersuchte sie lange, es war ihm deutlich anzumerken, daß er alles, was ihm von Fritsch vorgelegt worden war, anzweifelte. Fritschs Unsicherheit verspürte Lisa auf eine unerträglich schmerzliche Weise, als sie Bertrams kalten Blick verfolgte. Zum Glück und zu ihrer Erleichterung drängte sich in diesem Augenblick eine brünette schlanke Frau durch die schweigende Menge von weißen Kitteln hindurch. Leise flüsterte sie Bertram einige Worte zu, er sah auf den Zettel, den sie ihm gab, und nickte. Als sich die junge Frau entfernte, erriet Lisa, daß sie seine Sekretärin war. Der Klinikchef umgab sich mit gutaussehenden Menschen. Gleich darauf schob Bertram die Röntgenbilder beiseite und beendete seine Untersuchung des mageren Mädchens, indem er gereizt eine Magenspiegelung anordnete. Bei den nächsten zwei Patientinnen und bei Fräulein Mörder, sehr zu ihrer Enttäuschung, hielt er sich kaum auf, zu Fritschs Ausführungen nickte er nur. Auf seine Hände, die er
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